BRUNETTO LATINI

[39] Ein solcher schwarm beäugte mich jetzunder

Und einer kannte mich der mein begehrte

Und rief am kleid mich fassend: Welch ein wunder![39]


Und als er seine arme zu mir kehrte

Drang ich mit meinem aug in die verdorrte

Gestalt bis die verbrannte nicht mehr wehrte


Sie zu erkennen und ich gab die worte

Mit meinem antlitz dicht das seine fassend:

Meister Brunetto · ihr an diesem orte?


Und er darauf: Mein sohn · schein' es dir passend

Dass Brun Latini mit dir einige schritte

Nach rückwärts gehe seinen schwarm verlassend!


Ich sprach zu ihm: Mit allen kräften bitte

Ich euch · wollt ihr dass ich mich zu euch setze?

Ich würd es gern wenn es mein führer litte.


O sohn · versezt er · wer in unsrer hetze

Still steht muss liegen ohne sich zu rühren

An hundert jahr wie auch die glut ihn wetze.


Doch geh nur und lass deinen saum mich führen!

Hernach kehr ich zurück zu meiner herde

Wo weinend wir den ewigen schaden spüren.[40]


Nicht wagt ich mich mit ihm auf gleiche erde

Und schritt gesenkten hauptes am gestade

Wie einer mit ehrfürchtiger geberde.


Und er begann: Welch los und welche gnade

Lässt vor dem lezten dich herniederschweben

Und wer geleitet dich auf diesem pfade?


Da droben über euch im heitren leben ·

Sagt ich · verlor ich mich in einem tale

Eh noch des alters fülle mir gegeben.


Früh gestern liess ichs – doch zum zweiten male

Geriet ich hin als jener kam von ferne.

Nun führt er mich auf diesem weg zum strahle.


Und er zu mir sprach: Folgst du deinem sterne ·

Verfehlst du nicht den ruhmesvollen hafen.

Vom schönen leben her gedenkt mirs gerne.


War ich nicht zu so früher zeit entschlafen

Du hättest trost gehabt von meiner lippe

Da sichtlich dich des himmels gnaden trafen.[41]


Doch jene undankbare böse sippe

Die einst von Fiesole im niedersteigen

Noch manches mit sich nahm von klotz und klippe


Wird für dein wohltun dir sich feindlich zeigen

Und dies mit recht · denn zwischen sauren früchten

Geziemt das wachstum nicht den süssen feigen.


Sie heissen blind nach frühesten gerüchten ·

Ein volk von neid und geiz und stolz zerrissen.

Bewahre du dich rein von ihren züchten.


Dein glück wird solche ehren für dich wissen

Dass die und jene schar nach dir die pfote

Ausstrecken wird.. doch weg vom tier den bissen!


Das Fiesolaner Raubvieh häufe tote

Im eignen schwarm · nur fress es nicht die bramen –

Wenn je noch einer wächst aus seinem kote –


Daran lebendig wird der heilige samen

Von Römern die geblieben sind als schlechte

Den ort zum sitze ihrer bosheit nahmen ...[42]


Wär meine bitte mir erfüllt zu rechte ·

Gab ich zur antwort ihm · vertrieben wäret

Ihr heut noch nicht vom menschlichen geschlechte.


Zu herzen geht mir wie im geist mir währet

Noch eure gute teure vatermiene

Als ihr auf erden täglich habt erkläret


Wo sich der mensch die ewigkeit verdiene.

Wie hoch ich dieses hielt solang ich lebe:

Dass es aus meinen worten widerschiene!


Hölle · XV. Gesang · 22–87.

Quelle:
George, Stefan: Dante. Die göttliche Komödie. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 10/11, Berlin 1932, S. 39-43.
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