DER MYSTISCHE BAUM

[150] So war mein auge starr und fest gerichtet

Dass es nach dem zehnjährigen durst sich letze

Und hatte jeden andren sinn vernichtet.


Wie wenn es hier und dort sich grenzen setze

Der obacht – so hat mich das heilige blinken

An sich gezogen mit dem alten netze.


Dann ward mein antlitz mir zu meiner linken

Von jenen göttinnen gedreht im zwange

Als eine sagte: Nicht zu sehr versinken![150]


Und einwirkung die unsern blick befange

Wenn eben grad die sonne in ihm brannte

Beraubte mich der sicht minutenlange.


Doch als mein aug das mindre wiederkannte –

Ich sage ›minder‹ neben dem gesichte

So gross von dem ich mit gewalt mich wandte –


Sah ich nach rechts in einer andern richte

Das ruhmesvolle heer im bogen kommen

Im blick die sonne und die sieben lichte.


Wie schildbewehrte schar zu ihrem frommen

Umschwenkt und einen kreis zieht um ihr zeichen

Bevor sie andre stellung eingenommen:


So war die heerschar aus den ewigen reichen

Die vorging ganz an uns vorbeigeschritten

Bevor des wagens deichsel war im weichen.


Die frauen drehten sich an fuhrwerks mitten ·

Der Greif kam mit der heiligen last gezogen

Und so dass keine seiner federn glitten.[151]


Die schöne frau die mich enttaucht den wogen

Und ich und Statius bei dem rade gingen

Das seinen kreis beschrieb mit mindrem bogen.


Indem wir durch den wald der leer war dringen

(Sie der die schlange log ist anzuklagen)

Schlafft unsren schritt ein engelhaftes klingen.


So weit etwa war er dahingetragen

Als dreimal es ein bogenschuss gestatte:

Da hielt er · und die Selige stieg vom wagen.


Nachdem die schar ›Adam‹ gemurmelt hatte

Umgab sie einen baum von jeder seite

Der ganz entkleidet war von blüt und blatte.


Sein haar das um so mehr sich dehnt ins breite

Je weiter oben – würde von den Jndern

In ihrem wald bestaunt ob seiner weite.


›Glückselig · Greif! den schnabel zu verhindern

Dies holz zu splittern · das im schmacke zarte ·

Das nachher grimmt im leibe seinen schindern!‹[152]


So riefen um den starken baum gescharte

Einhellig – und das tier das zwiegestalte:

›Jedes gerechten same so sich wahrte!‹


Er fasste die vorher gezogne halte ·

Trieb sie zum fuss des stammes ohne frische

Indem er was von IHM war an IHN schnallte.


So wie bei unsren pflanzen wenn vermische

Das grosse licht mit jenem seine schosse

Das glutet hinterm himmelsbild der Fische:


Die säfte steigen und dann jede sprosse

In ihrer farbe · eh der sonnenwagen

Führt unter andrem sterne seine rosse ·


Minder als rosenfarbe ausgeschlagen

Als veilchen mehr – stand das gewächs im flore

Das so verwaiste zweige erst getragen.


Verstanden hab ich nicht · nie dringt zum ohre

Bei uns ein loblied wie es jene sangen ..

Nicht lauschen konnt ich bis zu end dem chore.[153]


Dürft ich beschreiben wie der schlaf umfangen

Des Argus augen bei der Syrinx sage

Dem es für zuviel wachsein schlimm ergangen:


Würd ich · ein maler der sein vorbild frage ·

Darstellen wie ich damals eingeschlummert ..

Doch schlaf zu schildern – ob es einer wage?..


Fegefeuer · XXXII. Gesang · 1–69.

Quelle:
George, Stefan: Dante. Die göttliche Komödie. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 10/11, Berlin 1932, S. 150-154.
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