GESICHTE DER SANFTMUT

[97] Da fühlte ich dass ich von einem scheine

Der plötzlichen verzückung sei durchfahren

Und sah ein gotteshaus mit der gemeine.


Und eine frau mit zärtlichem gebaren

Der mutter kam so redend hergegangen:

›Mein sohn! was bist du so mit uns verfahren?


Ich und dein vater haben voller bangen

Nach dir gesucht..‹ hier endete die stimme

Und was vorher sich zeigte war verhangen.


Drauf eine kam als ob ihr antlitz schwimme

In wasser das der schmerz entpresst der pforte

Wenn einer wird erfasst von grossem grimme.


Sie sprach: Hast du die macht an diesem orte

Dess nam' entfacht bei göttern gross gefechte

Und der für alle weisheit fand die worte:[97]


So strafe Jenes hand der sich erfrechte ·

Der unsre tochter küsste · Pisistrate! –

Doch schien mir dass der fürst der mild-gerechte


Gelassen antwort gab in klugem rate:

Was täten wir mit dem uns bös-gemuten

Wenn wir den büssten der sich liebend nahte!..


Ich sah dann ganz entbrannt in zornesgluten

Ein volk auf einen jüngling steine zücken

Mit lautem rufe: Bluten muss er · bluten!


Ich sah ihn vor dem tode schon sich bücken

Der auf ihm lastete · bis auf die erde ..

Doch schlug sein auge stets zum himmel brücken.


Er bat den Herrn in furchtbarer beschwerde

Er möge seinen peinigern verzeihen

Mit einem angesicht dem mitleid werde.


Fegefeuer · XV. Gesang · 85–114.[98]

Quelle:
George, Stefan: Dante. Die göttliche Komödie. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 10/11, Berlin 1932, S. 97-99.
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Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. 10/11: Dante - Die göttliche Komödie. Übertragungen