Der 73. Psalm
Sei wohlgemut, o Christenseel

[259] 1.

Sei wohlgemut, o Christenseel,

Im Hochmut deiner Feinde;

Es hat das rechte Israel

Noch dennoch Gott zum Freunde,

Wer glaubt und hofft, der wird geliebt

Von dem, der unsern Herzen gibt

Trost, Friede, Freud und Leben.


2.

Zwar tut es weh und ärgert sehr,

Wenn man vor Augen siehet,

Wie dieser Welt gottloses Heer

So schön und herrlich blühet;

Sie sind in keiner Todesfahr,

Erleben hier so manches Jahr

Und stehen wie Paläste.
[259]

3.

Sie haben Glück und wissen nicht,

Wie Armen sei zu Mute;

Gold ist ihr Gott, Geld ist ihr Licht.

Sind stolz bei großem Gute;

Sie reden hoch, und das gilt schlecht:

Was andre sagen, ist nicht recht,

Es ist ihn'n viel zu wenig.


4.

Des Pöbelvolks unweiser Hauf

Ist auch auf Ihrer Seite;

Sie sperren Maul und Nasen auf

Und sprechen: Das sind Leute!

Das sind ohn allen Zweifel die,

Die Gott vor allen andern hie

Zu Kindern auserkoren.


5.

Was sollte doch der große Gott

Nach jenen andern fragen,

Die sich mit Armut, Kreuz und Not

Bis in die Grube tragen?

Wem hier des Glückes Gunst und Schein

Nicht leuchtet, kann kein Christe sein,

Er ist gewiß verstoßen.


6.

Solls denn, mein Gott, vergebens sein

Daß dich mein Herze liebet?

Ich liebe dich und leide Pein,

Bin dein und doch betrübet.

Ich hätte bald auch so gedacht

Wie jene Rotte, die nichts acht't

Als was vor Augen pranget.


7.

Sieh aber, sieh, in solchem Sinn

Wär ich zu weit gekommen,

Ich hätte bloß verdammt dahin[260]

Die ganze Schar der Frommen;

Denn hat auch je einmal gelebt

Ein frommer Mensch, der nicht geschwebt

In großem Kreuz und Leiden?


8.

Ich dachte hin, ich dachte her,

Ob ich es möcht ergründen,

Es war mir aber viel zu schwer,

Den rechten Schluß zu finden,

Bis daß ich ging ins Heiligtum

Und merkte, wie du, unser Ruhm,

Die Bösen führst zu Ende.


9.

Ihr Gang ist schlüpfrig, glatt ihr Pfad,

Ihr Tritt ist ungewisse;

Du suchst sie heim nach ihrer Tat

Und stürzest ihre Füße.

Im Hui ist alles umgewendt,

Da nehmen sie ein plötzlich End

Und fahren hin mit Schrecken.


10.

Heut grünen sie gleich wie ein Baum,

Ihr Herz ist froh und lachet,

Und morgen sind sie wie ein Traum,

Von dem der Mensch aufwachet,

Ein bloßer Schatt, ein totes Bild,

Das weder Hand noch Augen füllt,

Verschwindt im Augenblicke.


11.

Es mag drum sein; es wäre gleich

Mein Kreuz so lang ich lebe,

Ich habe gnug am Himmelreich,

Dahin ich täglich strebe.

Hält mich die Welt gleich als ein Tier,

Ei, lebst du, Gott, doch über mir,

Du bist mein Ehr und Krone.
[261]

12.

Du heilest meines Herzens Stich

Mit deiner süßen Liebe

Und wehrst dem Unglück, daß es mich

Nicht allzu hoch betrübe;

Du leitest mich mit deiner Hand

Und wirst mich endlich in den Stand

Der rechten Ehren setzen.


13.

Wenn ich nur dich, o starker Held,

Behalt in meinem Leide,

So acht ichs nicht, wenn gleich zerfällt

Das große Weltgebäude.

Du bist mein Himmel, und dein Schoß

Bleibt allezeit mein Burg und Schloß,

Wann diese Erd entweichet.


14.

Wann mir gleich Leib und Seel verschmacht,

So kann ich doch nicht sterben,

Denn du bist meines Lebens Macht

Und läßt mich nicht verderben.

Was frag ich nach dem Erb und Teil

Auf dieser Welt? Du, du, mein Heil,

Du bist mein Teil und Erbe.


15.

Das kann die gottvergessne Rott

Mit Wahrheit nimmer sagen;

Sie weicht von dir und wird zum Spott,

Verdirbt in großen Plagen.

Mir aber ists, wie dir bewußt,

Die größte Freud und höchste Lust,

Daß ich mich zu dir halte.


16.

So will ich nun die Zuversicht

Auf dich beständig setzen,

Er werde mich dein Angesicht[262]

Zu rechter Zeit ergötzen.

Indessen will ich stille ruhn

Und deiner weisen Hände Tun

Mit meinem Munde preisen.

Quelle:
Paul Gerhardt: Dichtungen und Schriften, München 1957, S. 259-263.
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