Schlechte Einrichtung des Italienischen Singgedichts. Warum ahmen Deutsche sie nach?

[331] Da Sie jetzt an einen Ort gereist sind, der unter den deutschen Städten wegen seines Geschmacks an der Musik berühmt ist: so wünsche ich, daß Sie mir über folgende Fragen den Unterricht eines Kenners verschaffen: vorausgesetzt, daß Sie einen finden, der weder zu viel, noch zu wenig Musikus ist, sie im ersten Falle für allzu liebhaberisch, im andern für allzu vorwitzig anzusehen, als daß er sie einer Antwort würdigen sollte.

Ich möchte also gern wissen,

1) Ob nicht die Natur des Gesanges darin bestehe, daß er die Worte, deren er sich als Zeichen bedient, in Tongemälde der Empfindung verwandelt;

2) Ob nicht hieraus folge, daß Deklamation in keinerley Bedeutung Gesang heissen könne, so lange sie ihre Worte nur als Zeichen, und nicht als solche Gemälde vorträgt;

3) Ob nicht also auch das Recitativ, welches seine Grundsätze aus der Deklamation herleitet, von einer ganz andern Natur, als der Gesang sey. Und wenn alles das folgt:

4) Ob in Werken, die eigentlich darauf angelegt sind, daß sie eine Welt nachahmen, wo Alles durch Gesang ausgedrückt wird, so heterogene Theile, als Recitativ und Arie, nicht eine schlechte Composition geben.[332]

Mehr will ich nicht fragen, sondern einige Anmerkungen hinzufügen, meine Meynung näher zu entwickeln.

Die erste Beobachtung, die sich mir darbeut, und, wie es mir vorkömmt, schon gleich nicht wenig entscheidet, ist, daß die Deklamation auf jede einzelne Sylbe niemals mehr, als einen einzelnen Ton setzt, der Gesang aber das Gegentheil thut. Ich zweifle, daß es eine Nation in der Welt gebe, die im Reden, als Reden, ihre Sylben durch zwey oder mehr Töne in eine Notenfigur breche; wenigstens habe ich in keiner Reisebeschreibung etwas dergleichen erwähnt gefunden. Was man eine singende Aussprache, z.E. der Chineser, nennt, bezieht sich nicht hierauf, sondern auf die Intervallen der Töne, die bey einigen Völkern weiter, abstehender, sind, als bey andern.

Und eben daraus ziehe ich eine zweyte Bemerkung, – daß die Deklamation in ihren Intervallen enharmonischer1 Art sey, weil wir eine mehr chromatische oder diatonische Aussprache schon eine singende nennen. Einige Theoristen haben daher nicht ohne Ursache die eingeführte Tonleiter auf den Umfang der natürlichen Aussprache2 einschränken, und die halben Intervallen noch um die Hälfte vermindern wollen, damit das Recitativ dadurch, wie in der theatralischen Deklamation der Alten, an der Wahrheit seines Ausdrucks gewinnen möge. Ehe ich aber Gebrauch von diesen beyden Beobachtungen mache, lassen Sie mich versuchen, ob ich mit Ihnen oder[333] unsrem Kenner, in dem Begriffe eines Gemäldes der Empfindung, eines Tongemäldes, und eines Wortzeichens, übereinstimme.

Innere Seelenwirkungen sind nie von aussen her, nie durchs Organ empfunden worden, und können darum auch kein organisches Bild werden, wie die Gegenstände der Augen, die uns dadurch, daß wir sie sehen, wirkliche Augenbilder werden: ein Maaß, womit wir jede andre Copie des Gegenstandes vergleichen können.

Da sich aber innere Seelenwirkungen vermittelst eines organischen Körpers äussern, so können wir gleichwohl diese Aeusserungen als Bilder brauchen, woran wir die Empfindungen, die in dem Herzen eines andern vorgehen, symbolisch erkennen. Zu ihnen gehören die Töne.

In den Tönen unterscheiden wir zweyerley: den Ton und die Bewegung. Einzelne Töne malen die Seele durch ihren Accent, eine Reihe von Tönen durch Accent und Bewegung zugleich. Schrecken bricht in Geschrey, Schmerz in Gewimmer, Traurigkeit in Aechzen, Verlangen in schmachtende Seufzer aus. Aber Schrecken, Schmerz, Traurigkeit, Verlangen etc. haben auch ihre eigenthümlichen Bewegungen, wie innerlich im Herzen, so äusserlich in den Tonfolgen. Bewegung ist überhaupt, wie Aristoteles3 sehr gut anmerkt, vorzüglich eines sittlichen Ausdrucks.

Töne sind Zeichen, Worte sind auch Zeichen, nur auf eine andre Art.

Worte können theils als Töne, theils als Ideen betrachtet werden. Eine jede Idee, die ein Wort wird, ist eine bestimmte Modification unsrer Seele, das Resultat, nicht das Resultirende: oder, um mich durch eine Vergleichung zu erklären, die Ziefer, erst dann auf dem Uhrblatt angedeutet, nachdem in der Uhr diejenigen mechanischen Veränderungen vorhergegangen sind, die diese und keine andre Zahl auszeichnen. Das Wie dieser Modificationen ist niemals ein Wortbegriff, sondern wird es erst durch[334] die Verbindung mit jenen malerischen Aeusserungen, Handlungen, Minen, Gebehrden, Accenten, Tonfolgen etc. Nehmen Sie Worte, welche Sie wollen, Worte, die noch so resultirend scheinen; Sie werden immer finden, daß sie nur Resultate sind. Lesen Sie z.E. – Mein Herz wallt von Liebe, – Furcht und Hoffnung kämpfen in meiner Seele – Jede Entzückung strömt meinem Herzen zu: – Dieses Wallen, dieses Kämpfen, dieses Zuströmen ist Ihnen doch nur ein Zustand, wozu Ihnen das Wie fehlt. Hören Sie aber den Ton der nämlichen Worte, Accent, Modulation; sehen Sie die Mine, mit der ich sie ausspreche: – So, ach! so wallt mein Herz von Liebe! – So kämpfen Furcht und Hoffnung in meiner Seele. – So strömt jede Entzückung meinem Herzen zu. – Oder lassen Sie auch bloß Ihre Phantasie wirken; malen Sie sich den Ton, den Sie schon sonst gehört, die Mine, die Sie schon sonst gesehen, in der Einbildung vor; lassen Sie alle die innern Triebfedern springen, die in Ihnen schon sonst ähnliche Empfindungen hervorgebracht haben. Nicht weil Wallen, Kämpfen, Strömen eine Idee von etwas Resultirendem in Ihnen anregen, empfinden Sie es auch wirklich als resultirend; nein, diese Idee steht mit Ihrer Seele in einem weit andern Verhältniß, als mit der meinigen: soll sie ganz das Ihnen seyn, was sie mir ist, so müssen Sie den Gang der Empfindungen erst so durchwandeln, wie ich ihn selbst durchgewandelt bin; dazu die Bewegungen meiner Stimme und meiner Gebehrden, dazu das Bild der Phantasie, das Ihnen die Erfahrung oder die Anlage Ihres eignen Herzens anbiethet.

So wird aus Worten, aus Resultaten, das Tongemälde der Empfindungen, das Resultirende: wie ist daraus der Gesang entstanden? Sie trauen mir hoffentlich zu, daß ich Sie hier nicht auf die Frage zurückführen wolle, wie und wovon der erste Mensch gesungen habe: was wir nicht wissen können, mag ich nicht untersuchen. Entstehungsart des Gesanges heißt mir jetzt derjenige Zustand des Herzens, in welchem der Mensch natürlicher Weise zu singen pflegt.[335]

Dieses ist, deucht mir, kein andrer, als das Vergnügen. Natürlicher Weise singt man nicht, daß man Nahrungssorgen habe, daß man hasse, daß man fürchte. Man singt freylich in schwermüthigen Augenblicken: allein nur alsdann, wenn Schwermuth mit angenehmen Empfindungen der Hoffnung, des Gegenstandes etc. untermischt ist; und das sind gerade die wollüstigsten Augenblicke, deren das menschliche Herz geniessen kann. Ist, frage ich, dieser natürliche Gesang immer ein Tongemälde der Empfindungen? So wenig, daß er nicht nur äusserst willkührlich, sondern oft sogar das Widerspiel derselben zu seyn scheint. Das Singen drückt den Zustand unsers Herzens aus, und drückt ihn auch nicht aus; es drückt ihn aus, als Singen, und drückt ihn nicht aus, als Gesang.

Sie merken nun schon, daß noch Etwas hinzukommen müsse, wenn der Gesang das seyn soll, was unsre Idee von ihm erschöpft; und dies Etwas, mit einem Worte, ist zweckmäßige Nachahmung. Folglich, durch bestimmte Mittel. Durch welche?

Wir haben gefunden, daß alle menschliche Töne sich auf Accent und Bewegung zurückführen lassen; daß Accente einzelne natürliche Ausbrüche des Herzens sind; daß Tonbewegung theils die Aussprache der Worte überhaupt, theils die Aussprache der Sylben insbesondere erweitert, jenes durch ein abstehendes Intervallensystem, dieses durch Brechungen und Dehnungen. Wir finden aber auch, daß mit diesen ersten Tönen der Empfindung viele andre Töne verwandt sind, die sich willig mit ihnen vermählen, und das Rudiment des Bildes nach Zwecken der Nachahmung auszumalen dienen. Hiezu bequeme Zeichen, welche das succeßive Gemälde auf einmal als Resultat bestimmen: Worte; – so haben wir die unterscheidenden Merkmale des Gesanges beysammen. Ich verlange nicht weitläuftig zu zergliedern, was von selbst einleuchtet.

Nachdem man solchergestalt den natürlichen Gesang durch Grundsätze zur Kunst erhöht hatte, so sah man, daß sich in den nämlichen Plan noch eine gute Anzahl[336] Empfindungen hereinbringen liessen, die zwar nicht dem natürlichen Gesange eigen wären, aber doch die Haupteigenschaft des Gesanges hatten, einer Nachahmung durch Töne fähig zu seyn. Obgleich also Haß, Rache, Verzweiflung u.d. gl. keine unmittelbare Gegenstände des Singens sind; so hat ihnen doch die Natur ihre eigenthümlichen Tonbewegungen verliehen, wodurch sie sich über den Ausdruck der Sprache erheben, und Gesang werden können. Die Schranken zogen sich allmählig weiter aus einander. Ausser den Tönen der menschlichen Stimme besitzt die Natur einen Reichthum an Schall, der mit den innern Saiten unsrer Empfindung oft stark zustimmt. Auch die Nachahmung solcher Töne kann Gesang werden, indem sie sich in Gemälde der Empfindung abändern. Endlich hat man aus der Erfahrung gelernt, daß, sowie die Orchestik der Alten zuletzt die Gegenstände ihrer Nachahmung aus der ganzen Natur, so entfernt sie auch von der Gelehrtensprache seyn mochten, ohne Unterschied hernahm, so auch Dinge, die weder Schall noch Empfindung haben, dennoch gar wohl besondre Gegenstände der Tonkunst werden können. Selbst der philosophische Rousseau4 spricht von dieser letzten Erweiterung, als von einem ausserordentlichen Fluge des Genies. Mir deucht gleichwohl, daß die Kunst nicht unzufrieden seyn würde, wenn ihre Genien manchmal in der Wahl ihrer Gegenstände nicht gar zu sicher wären, und die Musik nicht gleich zu bereichern glaubten, so bald[337] sie etwas in Töne gebracht zu haben scheinen, was kein Mensch sich hätte einfallen lassen, für ein musikalisches Objekt zu halten. Ich wenigstens sehe nicht ein, was z.E. eine Oper bey der Vermählung des Dauphins durch eine Symphonie gewinne, die ein Feuerwerk nachahmt, wie Rameau einmal zur Belustigung des hohen Brautpaars seinen Franzosen ein so erstaunliches Feuerwerk abgebrannt hat. Daß eine steigende Rakete gewisse Empfindungen veranlassen könne, die musikalischen Ausdruck vertragen, begreife ich; so begreife ich auch, daß das Steigen der Rakete, da es eine Bewegung ist, eine Reduction auf gewisse Bewegungen des Herzens, die sich in Töne bringen lassen, verstatte: aber ob das den Virtuosen berechtige, seiner Kunst mit jeder entfernten Wirkung zugleich die Nachahmung jeder wirkenden Ursache anzumassen, mag Ihr Kenner entscheiden. Keiner Kunst sind feste Schranken, welche man, wenn sie einmal mit reifer Ueberlegung gesteckt worden, nie überschreiten sollte, so nothwendig, als der Musik. Die Musik hat in den Werkzeugen ihrer Nachahmung so eine Menge von Mitteln, die alle, wenn man nicht beständig Rücksicht auf die Bestimmung der Kunst nimmt, so leicht kleine Hauptzwecke werden können! Wenn der Eine nur beschäftigt ist, gewisse verborgne Eigenschaften seines Instruments hervorzulocken; der Andre, zu zeigen, auf wie mancherley Art man die einzelnen Stimmen in einander verwickeln; der Dritte, wie man einen Satz, der nichts sagt, bald so, bald anders vortragen könne; wenn man anfängt, nur das für Kunst zu halten, was die Aufmerksamkeit vom Ganzen auf die Theile hinzieht; wenn so der Musikus in beständige Collusion mit der Musik geräth, und dies und jenes zur Absicht macht, was durch eine Bearbeitung, wozu Talente erfordert werden, höchstens nur Nachsicht verdient: so kann man schwerlich sagen, daß die Kunst grosse Schritte zu ihrer Vollkommenheit thue, es sey denn, daß man das Raffinement der Nebenzwecke auch wirklich auf die Erreichung des Hauptzwecks anwende. Unser Jahrhundert hat vor dem vorigen, wo nicht Genie,[338] doch unstreitig Geschmack und Untersuchung voraus: eine kleine Erschütterung würde der Musik vielleicht jetzt mehr als jemals gelegen kommen, um so viel gelegner, wenn die Anmerkung einiger großen Meister wahr ist, daß sie sich ihrem Verfall nähere.

Sie werden mir hier vielleicht vorwerfen, daß ich einen Sprung von meiner Materie thue, indem ich von der musikalischen Nachahmung des Gesanges reden sollte. Allein der Sprung ist nicht so sehr Sprung, als er wohl scheint. Ich weiß nicht, ob die Instrumentalmusik, die wir größtentheils mit unsern Gesängen verbinden, die Theorie des Gesanges nicht gar zu zweydeutig gemacht habe. Seitdem man die Worte durch Instrumente unterbrechen, und das musikalische Gemälde durch andre Töne, als die menschlichen, ausführen gelernt, hat sich nicht allein das Feld der singbaren Nachahmung weit über seine alten Gränzen ausgebreitet, sondern das Zufällige des Gesanges, die Instrumentalmusik, ist offenbar mehr als zufällig geworden, und wird unvermerkt bald vollends das Wesentliche werden. Man fängt wirklich hin und wieder schon an, die Arie nicht mehr als ein Ganzes, worin der Sänger von den Instrumenten bloß unterstützt, seine Leidenschaften und musikalischen Ideen aus drückt, zu betrachten: umgekehrt, der Ausdruck der Leidenschaften wird ein Spielwerk der Instrumente, und die menschliche Stimme dient nur noch, so zu sagen, zum Epigraph instrumentalischer Gemälde. Darmsaiten haben singen gelernt; das ist schon recht; aber der Sänger hat es verlernt; und das ist nicht recht: er will, statt zu singen, deklamiren, ja auch das will er nicht einmal, er will sein stückweises Zuzählen eines Bischen Text für Deklamation gehalten wissen; und das ist schlimmer, als alles übrige.

Der Sänger, höre ich Sie mir zurufen, hat deklamiren gelernt? Wohl uns! Desto besser! Eben das hat uns gefehlt! Worte sind nicht gemacht, um durch eine ungeheure Menge Noten in Gemälde gezerrt zu werden: sie sollen Zeichen unsrer Begriffe seyn; verwandelt man[339] sie in Coloraturen, so sind sie weder das Eine noch das Andre: nicht Zeichen, denn man versteht sie nicht; nicht Gemälde, denn man weis nicht, was gemalt wird.

So geradezu möchte ich das Dilemma doch nicht einräumen. Die Ausübung der besten Meister beweist, daß es an Mitteln nicht fehle, Beides mit einander zu vereinigen. Sie vertheilen den Ausdruck der Empfindung auf die ganze Reihe von Worten, aus denen es zusammengesetzt ist, dergestalt, daß diese Worte zugleich als Zeichen vollkommen deutlich, und als Gemälde vollkommen empfindbar, das ist, daß sie das werden, was jedes nach seinem Zweck seyn soll und seyn kann, Gesang. Oder, wenn sie ein tönendes Wort haben, worauf sie das Gemälde legen wollen, so bemühen sie sich, entweder es so zu stellen, daß es aus dem Zusammenhange verständlich wird, oder sie lassen es als Zeichen vorhergehen, ehe sie es als Gemälde vortragen. Mich dünkt also, man könne nicht behaupten, das Wort werde auch da wider seinen Zweck gebraucht, wo doch in der That der Zweck erreicht wird, nämlich, daß der Zuhörer es beides als Zeichen versteht, und als Gemälde empfindet. Und nun möchte ich Ihren Satz so umkehren. Der Sänger will declamiren, anstatt zu singen? Er thut aber keines von beiden. Er declamirt nicht: denn itzt ein halbes Comma, und nach ein paar Takten, wenn die Instrumente genug gemalt haben, wieder ein halbes Comma, hier ein eingeschobnes Wort, und da eins, und nichts im Grunde als Randglossen zu einer fremden Musik-Sprache; heißt das declamiren? Auch singt er nicht; denn die Knäuel herreichen, woraus der Weberstuhl nebenan das Zeug macht; heißt das weben? Ich will zugeben, daß eine Arie nicht anders, als Eins aus Zweyerley, ein Gemälde aus Worten und instrumentalischen Klängen zusammengesetzt, beurtheilt werden müsse: aber warum wollen wir denn vergessen, daß auch die menschliche Stimme ein vortrefflich musikalisches Instrument sey, daß Töne unsrer Stimme ein viel unmittelbareres Bild geben, als Töne selbst der sprechendsten Geige, und daß es uns näher angehe zu wissen, was der[340] Mensch fühlt, als was ein Stück Holz fühlt? Die Instrumental-Musik hat eigenthümliche Reizungen genug, als daß es nöthig wäre, ihr zu Gefallen den Gesang zu verdrängen. Sie fasse die zarten Fäden unsrer Leidenschaften auf und verwickle uns nach und nach in ein Zaubernetz von Tönen, aus dem wir uns ungerne losreissen, wo in künstlichen Entzückungen eine schöne Phantasie die andre verjagt, wo ein Meer von Harmonien um uns herwallt, und unsre Seele in Empfindungen zerfließt, die ihr namenlos sind.

Nachdem ich hinlänglich gezeigt zu haben glaube, was ich für Gesang halte, so werde ich nicht viele Worte verliehren dürfen, Ihnen zu beweisen, was ich nicht dafür halte. Das beste Recitativ, gesteht sogar Rousseau, der sich so viele Mühe gegeben hat, es gegen die Arie zu vertheidigen, ist das, worin man am wenigsten singt. Es ist lächerlich, Recitiren Singen zu nennen. Man spreche entweder, wie sichs gebührt, oder singe lieber gar: beydes zugleich geht nicht an. Ist die Sprache, worinn man sich ausdrücken will, einmal gewählt, so bleibe man dabey: sie mitten in der Rede mit einer neuen vertauschen, was heißt das anders, als deutsch und französisch unter einander stottern? – Sonderbar, wie eben der Mann, der itzt so richtig urtheilt, so wenig Herr über seine Vorurtheile ist, daß er einen Augenblick darauf mit andern Worten schon das Gegentheil behauptet. – Das Recitativ, fährt er fort, muß nur dienen, die Contextur des Drama zu verbinden, die Arien durch den Contrast zu verschönern, und der Betäubung vorzubeugen, welche das beständige Geräusch unvermeidlich nach sich ziehen würde. – Wie? Singen und Reden sind zwey verschiedne Sprachen, die sich nicht zusammen vertragen: und nun nimmt sich die eine durch ihre Verbindung mit der andern nur desto besser aus. Wenn es wahr ist, daß eine Reihe von Arien unvermeidlich betäuben muß – Wenn es wahr ist? Allerdings! spricht Rousseau. Eine Oper von lauter Arien würde eine eben so schlimme Wirkung thun, als eine einzelne Arie, die so lang wäre, als eine ganze Oper – Das doch wohl[341] nicht! Eine einzelne Arie, die nur Ein Bild, Eine Situation, ausmalt, ist doch wohl nie völlig eben das, was eine Reihe von Arien, wo vielerley Gemälde und Situationen abwechseln. Aber es sey! Lauter Arie ermüde und betäube uns. Hat denn die Musik, diesem Uebel vorzubauen, keine Hülfsmittel in sich selbst? Muß sie darum zu einem ganz fremden Mittel ihre Zuflucht nehmen? Welche andre Kunst des Geschmackes hat sich das jemals erlauben dürfen? Und wo ist die Nothwendigkeit? Giebt es nicht Grade der Nachahmung? Sind alle Empfindungen, die dem Gesange angehören, einerley Stärke des Ausdrucks, einerley Klarheit, einerley Umfanges fähig? Ist der Virtuos nicht Meister seines Stoffs? Kann er seine Partien nicht so anordnen, wie sie sich wechselsweise aufstutzen und verschönern? einige durch ein schwaches Licht mildern, andre mit der vollen Fackel des Genies erleuchten? Muß er darum aus seiner Sphäre herausgehen? Giebt es keine Arietten, Cavatinen, Ariosen, Stanzen? Giebt es kein Recitativ obligé, das im eigentlichen Verstande Gesang ist? Giebt es nicht vielleicht noch viele andre Gattungen des Gesanges, an die man nur darum nicht gedacht hat, weil man immer nur einerley elende Cantatenform im Gesicht hatte, wovon man nicht abweichen zu dürfen meynte?

Damit will ich keinesweges das Recitativ verwerfen.

Wo, wie in den Trauerspielen der Alten, nicht der Gesang, sondern die Recitation den Ton des Werks bestimmt; wo, wie im gemeinen Leben, ein Lied bloß zufällig gesungen wird; wo Recitiren nur ein tonvolleres Sprechen, nicht, was es niemals seyn kann, durch tonvolleres Sprechen so schon Gesang seyn will; wo der Musikus beständig den wesentlichen Unterschied vor Augen hat, der zwischen einer Ideensprache durch Töne, und einer Sprache der Empfindungen durch Tongemälde herrscht; nicht Recitationssylben, in figurirte Gesangsylben, nicht sanft in einander fliessende Tonfolgen der Aussprache in springende, schwebende, hüpfende Modulationen auskünstelt, nicht ein Gemisch von Monogramm und Coloratur für Einheit der Malerey, kein[342] Unding aus verworrnen Tongängen, das weder recht spricht, noch recht singt, für natürliche Melodie der Deklamation ausgiebt; kurz, wo Recitation wirklich die schöne Natur der menschlichen Rede, nicht mehr und nicht weniger, ist: da geniesse das Recitativ, bey uns so gut, wie bey den Griechen, aller seiner Rechte, uneingeschränkt. Man mache immerhin Recitative; man mache sogar eine besondre Gattung recitativischer Opern, der die lebhafteste Accentuation der Aussprache, wie sie nur je bey den Griechen oder bey den Chinesern statt findet, zum Grunde liegt: nur mache man aus Recitativ und Gesang kein widersinniges und geschmackloses Ganze. Sie hätten mich wahrlich sehr unrecht verstanden, wenn Sie meinen Widerwillen gegen das Recitativ im Singgedicht mit der tändelhaften Abneigung einiger Dilettanti verwechselten, die allenthalben singen und singen hören wollen, auch wo am wenigsten der Ort dazu ist. Ein gut gearbeitetes Recitativ gilt mir alle- allemal mehr als die klingendste Arie, die nur klingt. Das gute Wort Cantabel, das man jetzt so unbescheiden zu misbrauchen anfängt, das alle Kraft der Instrumental-Musik zu lähmen, und den wenigen Ausdruck, der noch in unsrer Singekunst übrig ist, bald vollends zu entnerven droht, findet an mir einen sehr mäßigen Bewunderer. Ich muß Ihnen sogar unter uns ganz heimlich, (denn wer würde nur so was heutiges Tages vergeben?) Ihnen muß ich gestehen, daß ich ein einziges


Awful pleasing Being, say

If from Heav'n thou wing'st thy way,


ein einziges


Father of Heav'n from thy eternal Throne

Look with an Eye of Blessing down


des männlichen, erhabnen, des deutschen Händel5 mit samt seinem unmelodischen Eigensinn, oder wie man es sonst nennen will, weit über alles Geklingel der neuern Italiener setze, was ich kenne. Es ist so wenig der Mangel[343] an Melodie, was mir am Opern-Recitativ misfällt, daß mir vielmehr die Erniedrigung desselben am meisten nahe geht, da man es erst für eine Art von Gesinge verkaufen zu müssen glaubt, wenn es Liebhaber finden soll.

Wir rühmen uns, und wie es scheint, nicht ohne Grund, den bessern italienischen Geschmack in der Singcomposition geschaffen zu haben. Sollte es denn wohl einer so schöpferischen Nation, als die deutsche, (und sie ist es gewiß, sogar in hohem Grade, der deutschen Nachahmer ungeachtet) sollte es der wohl würdig seyn, die offenbar schlechte Einrichtung des Hauptwerks der Musik bloß darum beyzubehalten, weil sie so und nicht anders aus den alten Madrigalen der Franzosen und Italiener entstanden ist. Welch ein Werk könnte die Oper seyn! welch ein Werk, wenn man sich gleich Anfangs um die Franzosen und Italiener, und ihre alten Madrigale, und ihre gothischen Begriffe unbekümmert gelassen hätte! welch ein Werk, wenn man noch itzt die eigenthümliche Welt der Oper, (ich meyne hier weder Götter, noch Feen, noch Sylphen, noch Zaubrer, ich meyne die Welt einer edlen und der Gottheit würdigen Imagination), so zu nutzen versuchte, als schon das blosse Ideal derselben die brüderlichen Genien der Dichtkunst und der Tonkunst dazu einladet.

1

Der Zweydeutigkeit des Worts wegen merke ich an, daß ich es hier im Sinne der Alten nehme, welche das enharmonische Klanggeschlecht für das erste und natürlichste unter den dreyen hielten, weil sie es ohne Beziehung auf Harmonie bloß nach der sanften Folge der Töne beurtheilten und ausübten; da es hingegen nach dem Sinne der Neuern, die es nur vermittelst der Harmonie herausbringen können, künstlicher als die beyden andern ist. S. Historischkritische Beyträge zur Musik II. 278. Rousseau Dict. De Musique Art. Enharmonique, Voix, Genre etc. Du Bos Reflexions III. 9.

2

Man macht noch einen Unterschied unter dem Tone der Aussprache, und dem Tone der Deklamation, der eine genaue Untersuchung verdiente.

3

Problem. sect. XIX. 27. 38.

4

Ne cherche point, jeune Artiste, ce que c'est que le Génie. En as-tu: tu le sens en toi-même. N'en as-tu pas: tu ne le connoitras jamais. Le Génie du Musicien soumet l'Univers entier à son art. Il peint tous les tableaux par des sons; il fait parler le silence même. – Il exprime avec chaleur les frimats et les glaces. Dict. De Musique. Art. Génie. Ebenso enthusiastisch drückt sich jener Liebhaber beym Aristenät über die Fähigkeiten einer mimischen Tänzerinn aus. Πολυμγίν, Ἀφροδίτην εχουσιν οἱ δεοί. Εκεινας ἡμις, ὡς εφικτον, ὑποκρίνεις ὑπ᾽ αυτῶν κοσμουμένη. Ὀνομασω ῥήτορα προσείπω ζώγραφον καὶ πράγματα γράφεις, καὶ λόγους παντοδαποῦς ὑποφαίνεις. Καὶ φύσεως ἁπάσης ενάργης ὑπάρχεις εἴκων. Lib. I. Epist. 26.

5

Händels songs selected from his Oratorios. Vol. I. n. 22. 7.

Quelle:
Heinrich Wilhelm Gerstenberg: Briefe über die Merkwürdigkeiten der Litteratur, Stuttgart 1890, S. 331-344.
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