Vier und zwanzigster Brief.

[262] Madrid.


Einige Tage nach Abfertigung meines letztern, da ich unter meinen Brochüren, die ich aus England mitgebracht habe, ich weis nicht mehr was suchte, fiel mir ein einzelnes Play in die Hände, das wegen seines mir unbekannten Titels, mit dem Namen Shakespear darunter, meine Aufmerksamkeit ganz besonders auf sich zog. Stellen Sie sich meine Freude vor, da ich aus der Vorrede Herrn Theobalds, des Herausgebers, ersah, daß die Novelle vom Cardenio, aus dem Don Quixote, darinn zum Grunde läge.

Ein Wettstreit zwischen Shakespear und Cervantes! Ein so vortrefflicher Stoff! Der Haupt-Charakter ein unsinniger Mensch! die Neben-Charakter ein humoristischer Ritter, und der naivste unter allen Stallmeistern! nächst ihnen das reizende Bauer-Mädchen, ein alter Ziegenhirte, ein Pfarrer, ein Barbier! die Scene so wild und anziehend! die Situationen so reich und glänzend! die ganze Fabel eine so glückliche Erfindung! – Wundern Sie sich nicht, daß ich mir ein Meer von Vergnügen versprach, und mich sogleich in mein Bücher-Cabinet einschloß, um meinen Morgen recht ungestöhrt zu genießen.

Es kann nicht fehlen, dachte ich, Shakespear wird weiter gegangen seyn, als die Novelle. Er wird die Neben-Charakter, die hier eine bloße Incidenz sind, zu schön erdacht finden, als daß er sie nicht, in Form einer zweyten oder untergeordneten Handlung, mit seinem Stoffe verweben[262] sollte. Wenn andern der Haupt-Ton im Charakter des Sancho entwischt ist, so wird Shakespear ihn in einem Augenblick saisiren, ihn ganz durchdenken; und es müßte wohl muy grande maravilla seyn, wenn der Stallmeister nicht unter seiner Hand, als der reizendste Goffo-Charakter hervorspringen sollte, der außer der bergamesischen Familie je existiret hat.

Ich schlage die Dramatis Personae nach: – kein Ritter, kein Stallmeister, keine Prinzessin von Micomicon, kein Barbier, kein Pfarrer! Das ist sonderbar. Sollte Shakespear die Novelle wohl aus einem andern Buche, als aus dem Don Quixote?

Ich gucke noch einmal in die Vorrede des Herausgebers. – »Es trifft sich, heißt es daselbst, daß Don Quixote 1611 [das ist falsch; die erste Edition ist von 1608; aber desto besser] herausgegeben ward, und Shakespear starb 1616.« – Hem! Aber Shakespear konnte ihn nur in Uebersetzungen gelesen haben, und die englische kam erst 1620 zum Vorschein; die französische ist zwey Jahre älter, und die italienische von 1622. Alle nach Shake spears Tode. Was soll man denken?

An der Authenticität des Drucks durfte ich nicht zweifeln; denn in dem vorangesetzten Freyheits-Briefe K. Georgs II. heißt es ausdrücklich:

Whereas our trusty and well-beloved Lewis Theobald, of our City of London, Gent. has by his Petition humbly represented to Us, That He having, at a considerable Expence, Purchased the Manuscript Copy of an Original Play of William Shakespeare, called Double Falshood or the Distrest Lovers, and with great Labour and Pains Revised and Adapted the same to the Stage, has humbly besought Us, to grant him Our Royal Privilege and Licence for the sole Printing and Publishing thereof, for the Term of fourteen Years etc.

Trusty Will. Theobald, Gent. wird doch wahrlich den König nicht betrogen haben?[263]

Ein wenig betroffen, daß ich mir auf die Gesellschaft des Escudero vergebliche Rechnung gemacht hatte, fange ich an die ersten Scenen zu lesen, – darauf zu blättern – und endlich das ärgerliche Ding gar aus der Hand zu werfen. Wissen Sie, was ich fand? Den natürlichen Theobald!

Man kann sich keinen dreistern, unanständigern Autor-Kniff denken!

Mit diesem Cento travestirter Schönheiten, mit die ser plagiarischen Dullness, Shakespears Namen zu schänden! Ich habe keine Geduld mit dem Tibbald! Er verdiente die oberste Stelle in der Dunciade.

Sollte man glauben, daß ein Mensch eine so eiserne Stirne haben könne, nicht allein seinen König zu hintergehen, sondern auch ein kleines Ungeheuer, wozu nur er der Vater seyn konnte, einem Superieur vom edelsten Rufe anzudichten?

Da ich versichert bin, daß Ihnen dieses Meisterstück der brittischen Licenz etwas ganz Fremdes ist, so will ich Ihnen die Hauptzüge aus der Dedication, der Vorrede und dem Prolog eines gewissen Frowde mittheilen, die Sie und jedermann täuschen würden, der das Stück selbst nicht aufmerksam genug läse. Ich hoffe wirklich, allen unsern Freunden einen Dienst zu thun, daß ich Sie vor einem so verdeckten Betruge warne.

Die Zueignungsschrift an den Minister Dodington ist gleich lauter Unverschämtheit.

»Das Vergnügen, hebt sie an, welches ich über den allgemeinen Beyfall, der dieses verwaiste Schauspiel krönt, empfinde, kann durch nichts verstärkt werden, als durch das gegenwärtige zweyte, da ich mich unterstehe, es unter dem Schutze Ihres Namens in die Welt zu schicken. Ich habe eine so große Liebe für die Werke und das Andenken Shakespears, daß, wie das Glück mir so günstig gewesen ist, diese Reliquie seiner Feder vor der Vergessenheit zu sichern, so auch mein höchster Ehrgeiz darinn bestehen mußte, demselben einen solchen Beschützer zu verschaffen;[264] und ich hoffe, daß die Zukunft, wenn sie Shakespearn den größten Lobspruch zuerkennt, sich erinnern wird, daß Herr Dodington kein geringerer Freund seines Nachlasses gewesen, als sich sein eigener Southampton für seine lebenden Verdienste erwiesen hat. – Erlauben Sie mir den feurigen Wunsch, daß Sie diese theure Reliquie mit einem zärtlichen Blicke betrachten mögen,« u.s.w.

Aus der Vorrede will ich eine oder zwo Stellen anführen, die statt aller übrigen dienen können.

»Man hat es für unglaublich gehalten, daß eine solche Seltenheit ein ganzes Jahrhundert lang für die Welt hätte verlohren bleiben können. Ich antworte, ob sie gleich erst itzt auf der Bühne erscheint, so ist doch eine der geschriebenen Copien, die ich besitze, über sechzig Jahr alt, und von der Hand Herrn Downes, des bekannten alten Souffleurs; diese aber war, wie man mich glaubwürdig versichert hat, schon frühzeitig in dem Besitze des berühmten Betterton, der die Absicht hatte, sie der Welt unverzüglich bekannt zu machen. Durch welchen Zufall er von diesem Vorhaben abgebracht worden, getraue ich mir nicht zu sagen; und eben so wenig weis ich, durch was für Hände sie vor ihm mag gegangen seyn. Man hat eine Tradition, (ich habe sie von einem Nobleman, der mich mit einer meiner Copien versehen hat,) daß unser Autor dieses Schauspiel als ein Geschenk von Werth einer natürlichen Tochter, zu deren Behuf er es schrieb, ohngefähr um die Zeit, da er das Theater verließ, gegeben habe. Noch besitze ich zwey andere Abschriften, (deren eine ich mich freute um einen mäßigen Preis zu erhalten, die nicht völlig so alt sind, als jene: aber eine ist vollendeter, und hat weniger Fehler und Nachläßigkeiten im Sinne, als die andere.«

»Andere haben, um ihrer Meynung nach, die Wichtigkeit der Entdeckung zu schmälern, behaupten wollen, wenn gleich das Stück einige Aehnlichkeit mit Shakespears Manier haben könne, so komme doch die Colorite, die Sprache, und die Zeichnung der Charaktere dem Stile und[265] der Manier unsers Fletcher viel näher. Dieß, denke ich, verdient keine Antwort; ich überlasse bessern Richtern, ihr Urtheil darüber zu fällen: wiewohl ich nicht läugnen kann, daß meine Parteylichkeit für Shakespearn mich wünschen läßt, Alles, was in unserer Sprache gut oder reizend ist, möchte aus seiner Feder geflossen seyn.« –

Sie schütteln über die Impertinenz dieses Mannes den Kopf? Kleinigkeiten! Ich habe noch ganz andere Dinge aus dem Prolog für Sie in Bereitschaft.

»Oh könnte der Barde (posaunt der Versmacher) könnte der Barde [Shakespear] in unsere Tage zurückkehren, könnte er der Ehre genießen, die seinem Schatten diesen Abend wiederfährt: wie würde er die Bühne dieser Zeiten segnen, welche die goldenen Tage seiner Eliza so sehr überglänzen! – Wie würde er sich freuen, wenn er die Anforderung des Verdienstes, in seinem eignen wieder auflebenden Ruhme, so reichlich befriedigt fände! Wie stolz würde er ausrufen: Ich verzeihe der Vergessenheit; dieß letzte Kind meines Geistes soll die spätesten Zeiten überleben! Für die Welt verlohren, hat es seine Geburts-Stunde wohl abgewartet; wohl verzögerte es sie bis auf diese vorbedeutungsvolle Aera!« –

Ich war, da ich mich so übel betrogen fand, zu voll von meinem Verdrusse, als daß ich Ihnen den Zufall nicht gleich hätte klagen sollen; und ich gestehe Ihnen, daß ich eilfertig war, mich dieser Zwischenzeit zu bedienen, bis Sie Neuigkeiten anderer Art von mir verlangen. Ich bin etc.


* * *


N. S.

Thomas Durfey, der bekannte englische Poet, den Sie so oft im Spectator und Guardian angeführt finden, ist ein Genius gegen Theobald. Er hat die Geschichte vom Don Quixote in einer Suite von drey Komödien auf die Bühne gebracht; es ist nicht halb so viel Humor und Witz verdunstet, als bey jenem. Aber[266] freylich, der Charakter des Sancho ist ihm ganz verunglückt. Kein Wunder! Er hat ihn zu einem witzigen Kopf gemacht, der seinen Herrn aufzieht, und mit dem spanischen Stallmeister nichts gemein hat, als Sprichwörter. Ist es nicht sonderbar, daß niemanden auch nur eine Postiche dieses Charakters hat gelingen wollen? Der Arragonier Avellaneida, der seinem Vorgänger einen zweyten Theil unterschob, sah sogar im ehrlichen Sancho nur den schnackischen Bauer; nichts von der originalen Wendung eines Menschen, den die Natur gegen alle äußern Unfälle, als da sind Lanzen- und Ribbenstöße, Steinhagel, Geprelle und dergleichen, bey aller Weichheit seines Empfindnisses so abgehärtet hatte, daß es ihm eben so unmöglich war, einen Einfall, der in seinen Kopf kam, von der Zunge zurückzuhalten, als es seinem Herrn schwer fiel, diese Einfälle nicht mit Prügeln zu erwiedern; eines Menschen, dessen Gedanken-Sphäre die Natur so kärglich zusammengezogen hatte, daß er die Herrschaft über eine Insel, Trotz aller Zauberer in Andalusien, für einen nicht unwahrscheinlichen Erfolg der erbärmlichsten Abenteuer ansah, und der zugleich innerhalb dieser kleinen Sphäre mit so vieler Ueberlegung, Scharfsinnigkeit und Urtheilskraft raisonnirte, daß die Spötter auf der Insel Barataria nicht mehr wußten, wer unter ihnen der Narr sey.

Ich kenne nur Einen, den ich Sancho mit Fug an die Seite setzen dürfte: – Meister Sterne, den Verfasser des Tristram Shandy, der gerade so schreibt, wie jener spricht, das ist, Alles, was in sein Herz und seine Sinne kömmt. Wenn die Gedanken bey allen Schriftstellern oder Gesellschaftern so los sässen; welch ein Schatz für die Weltkenner!


[Die Fortsetzung dieses Briefwechsels künftig.]

Quelle:
Heinrich Wilhelm Gerstenberg: Briefe über die Merkwürdigkeiten der Litteratur, Stuttgart 1890, S. 262-267.
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