Palemon

[40] Wie lieblich glänzet das Morgenroth durch die Haselstaude und die wilden Rosen am Fenster! Wie froh singet die Schwalbe auf dem Balken unter meinem Dach! und die kleine Lerche in der hohen Luft! Alles ist munter, und jede Pflanze hat sich im Thau verjüngt; auch ich, auch ich scheine verjüngt; mein Stab soll mich Greisen vor die Schwelle meiner Hütte führen, da will ich mich der kommenden Sonne gegenüber sezen, und über die grünen Wiesen hinsehn. O wie schön ist alles um mich her! Alles was ich höre sind Stimmen der Freude und des Danks. Die Vögel in der Luft und der Hirt auf dem Felde singen ihr Entzüken, auch die Herden brüllen ihre Freude von den grasreichen Hügeln und aus dem durchwässerten Thal. O wie lang, wie lang, ihr Götter! soll ich noch eurer Gütigkeit Zeuge seyn? Neunzig male habe ich izt den Wechsel der Jahrszeiten gesehn, und wann ich zurük denke, von izt bis zur Stunde meiner Geburt, eine weite liebliche Aussicht, die sich am Ende, mir unübersehbar in reiner Luft verliert, o wie wallet dann mein Herz auf! Ist das Entzüken, das meine Zunge nicht stammeln kann, sind meine Freuden-Thränen, ihr Götter! nicht ein zu schwacher Dank? Ach fließt ihr Thränen, fließt die Wangen herunter! wenn ich zurük sehe, dann ists, als hätt' ich nur einen langen Frühling gelebt, und meine trüben Stunden waren kurze Gewitter, sie erfrischen die Felder und beleben die Pflanzen. Nie haben schädliche Seuchen unsre Herde gemindert, nie hat ein Unfall unsre Bäume verderbt, und bey dieser Hütte hat nie ein langwierig Unglük geruht. Entzükt sah ich in die Zukunft hinaus, wenn meine Kinder lächelnd auf meinem Arm spielten, oder wenn meine Hand des plappernden Kindes wankenden Fußtritt leitete; Mit Freuden-Thränen sah ich in die Zukunft hinaus, wenn ich die jungen Sprossen aufkeimen sah; ich will sie vor Unfall schüzen, ich will ihres Wachsthums warten, sprach ich, die Götter werden die Bemühung segnen; sie werden empor[41] wachsen, und herrliche Früchte tragen, und Bäume werden, die mein schwaches Alter in erquikenden Schatten nehmen. So sprach ich, und drükte sie an meine Brust, und izt sind sie voll Segen empor gewachsen, und nehmen mein graues Alter in erquikenden Schatten; so wuchsen die Apfel-Bäume, und die Birnen-Bäume, und die hohen Nuß-Bäume, die ich als Jüngling um die Hütte her gepflanzet habe, hoch empor; sie tragen die alten Äste weit herum, und nehmen die kleine Wohnung in erquikenden Schatten. Diß, diß war mein heftigster Gram, o Mirta! da du an meiner bebenden Brust, in meinen Armen sturbest. Zwölf male hat izt schon der Frühling dein Grab mit Blumen geschmükt; aber der Tag nahet, ein froher Tag! da meine Gebeine zu den deinen werden hingelegt werden; vielleicht führt ihn die kommende Nacht herbey! O! ich seh es mit Lust, wie mein grauer Bart schneeweiß über meine Brust herunter wallt; ein herrliches Merkmal der Güte der Götter! Ja spiele mit dem weissen Haar auf meiner Brust, du kleiner Zephir, der du mich umhüpfest, er ist es so werth, als das goldne Haar des frohen Jünglings und die braunen Loken am Naken des aufblühenden Mädchens. O dieser Tag soll mir ein Tag der Freude seyn! ich will meine Kinder um mich her sammeln, bis auf den kleinen stammelnden Enkel, und will den Göttern opfern; hier vor meiner Hütte sey der Altar; ich will mein kahles Haupt umkränzen, und mein schwacher Arm soll die Leyer nehmen, und dann wollen wir, ich und meine Kinder, um den Altar her Loblieder singen; dann will ich Blumen über meine Tafel streuen, und unter frohen Gesprächen das Opferfleisch essen. So sprach Palemon und hub sich zitternd an seinem Stab auf, und rief die Kinder zusammen, und hielt den Göttern ein frohes Fest.

Der stille Abend kam, und Palemon sprach, voll heiliger Ahnung: laßt uns hinausgehen, Kinder, zu dem Grabe der Mirta, da laßt uns Wein und Honig hingiessen, und das Fest mit Gesängen enden. Und sie giengen hinaus auf das Grab;[42] umarmet mich, Kinder, sprach der Greis, voll heiligen Entzükens, und er ward aus ihren umschlingenden Armen zur Cypresse verwandelt, die izt das Grab beschattet.

Der stille Mond war Zeuge der Geschichte, und hielt stille in seinem Lauf, und wer in dem Schatten des Baumes ruht, dem bebt ein heiliges Entzüken durch die Brust, und eine fromme Thräne fällt ihm vom Aug.

Quelle:
Salomon Gessner: Idyllen. Stuttgart 1973, S. 40-43.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Idyllen
Idyllen
IDYLLEN in GESPERRTER LANDSCHAFT: ZEICHNUNGEN UND GOUACHEN VON SALOMON GESSNER, 1730-1788 / Idylls in an Obstructed Landscape: Drawings and Gouaches by Salomon Gessner, 1730-1788