16. Die Gemse und die Ziege

[78] Auf hohen Alpen kletterte

Die Schweizerin, die Gemse. Flüchtige!

Rief eine Ziege, warte doch!

So hoch komm' ich ja auch wohl noch!


Die Gemse wartet, und mit leichter Müh'

Erreicht die Ziege sie;

Siehst du, bin ich nicht da?

Kann ich nicht klettern?

Ja!

Du kannst, allein,

Nimm dich in Acht, du brichst, ich wette, Hals und Bein;

Denn, sieh hinauf!

Nach jener Höh, dem Himmel nah,

Will ich hinauf!


Und plötzlich rafft die Flüchtige sich auf,

Ist bald

Auf einer Felsenspitze, steht

In kaum zu sehender Gestalt,

Der Ziege sichtbar, oben drauf,

Und ruft herunter: Komm herauf!
[78]

Die Ziege hörts und denkt: Gewagt ist halb gewonnen;

Komm ich auch allenfalls,

Wenn ich so weit nicht kann,

Nur halb hinan!


Kaum aber hatte sie das kühne Werk begonnen,

So stürzte sie, und brach den Hals!

Quelle:
Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke, Leipzig 1885, S. 78-79.
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