2. Der Löwe, der Tiger und der Wandersmann

[70] An des Prinzen Friedrichs von Preußen Königliche Hoheit.


(Im Jahre 1757, als Ihro Königliche Hoheit dem Verfasser Kupferstiche zu den Fabeln des la Fontaine zeigten, und ihn fragten: »Ob er auch Fabeln machen könne?«)


Als Österreich und Sachsen sich verband,

Und dein geliebtes Vaterland

Verschlingen wollte, Prinz!

Und unter sich schon jegliche Provinz

Geteilet hatte, da entwich

Von uns der Vater Friederich

Mit seinem Heer, that einen Flug

Auf unsern Feind, und sah, und schlug,

Und war des Feindes Sieger!

Und als ich da

Den Held ins Vaterland zurücke kommen sah,

Da schon erzählt' ich, Prinz! die Fabel von dem Tiger.
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Ein Tiger schrecklich anzusehn,

Obgleich von außen schön,

Fiel einen armen Wandersmann,

Der vor sich hin, bei stillem Gang,

Ein Morgenlied dem Schöpfer sang,

Mit ausgestreckten Klauen an

Ihn zu zerreißen – Was geschieht?


Ein alter Löwe sieht

Die Heldenthat, aus seiner nahen Höhle;

Fliegt, angespornt von seiner großen Seele,

Hervor aus ihr, springt auf den Tiger,

Hält ihn – – Rund um erschallt,

Von dem Gebrüll der weite Wald;

Der edle Löw' ist Sieger!


Von Blut noch mehr, als von Natur, gefleckt,

Liegt da vor ihm der Tiger hingestreckt.

Der Löwe tritt auf ihn – – Der arme Wandersmann

Fällt auf die Knie, und fleht

Den Löwen um sein Leben an.

Der Löwe sieht ihn an, und sieht sich um, und geht,

Zufrieden, (seine große Seele

Gezeichnet im Gesicht,) zurück in seine Höhle.

Quelle:
Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke, Leipzig 1885, S. 70-71.
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