Das garstige Gesicht

[470] Wenn einen würdigen Biedermann,

Pastorn oder Ratsherrn lobesan,

Die Wittib läßt in Kupfer stechen

Und drunter ein Verslein radebrechen,

Da heißt's: »Seht hier mit Kopf und Ohren

Den Herrn, Ehrwürdig, Wohlgeboren!

Seht seine Augen und seine Stirn;

Aber sein verständig Gehirn,

So manch Verdienst ums gemeine Wesen

Könnt ihr ihm nicht an der Nase lesen.«


So, liebe Lotte! heißt's auch hier:

Ich schicke da mein Bildnis dir.

Magst wohl die ernste Stirne sehen,

Der Augen Glut, der Locken Wehen;

's ist ungefähr das garst'ge Gesicht:

Aber meine Liebe siehst du nicht.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 470.
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