Musen und Grazien

in der Mark

[102] O wie ist die Stadt so wenig;

Laßt die Maurer künftig ruhn!

Unsre Bürger, unser König

Könnten wohl was Bessers tun.

Ball und Oper wird uns töten;

Liebchen, komm auf meine Flur,

Denn besonders die Poeten,

Die verderben die Natur.


O wie freut es mich, mein Liebchen,

Daß du so natürlich bist;

Unsre Mädchen, unsre Bübchen

Spielen künftig auf dem Mist!

Und auf unsern Promenaden

Zeigt sich erst die Neigung stark.

Liebes Mädchen! laß uns waten,

Waten noch durch diesen Quark.


Dann im Sand uns zu verlieren,

Der uns keinen Weg versperrt!

Dich den Anger hin zu führen,

Wo der Dorn das Röckchen zerrt!

Zu dem Dörfchen laß uns schleichen

Mit dem spitzen Turme hier;

Welch ein Wirtshaus sondergleichen!

Trocknes Brot und saures Bier!


Sagt mir nichts von gutem Boden,

Nichts vom Magdeburger Land!

Unsre Samen, unsre Toten

Ruhen in dem leichten Sand.

Selbst die Wissenschaft verlieret

Nichts an ihrem raschen Lauf,[102]

Denn bei uns, was vegetieret,

Alles keimt getrocknet auf.


Geht es nicht in unserm Hofe

Wie im Paradiese zu?

Statt der Dame, statt der Zofe

Macht die Henne glu! glu! glu!

Uns beschäftigt nicht der Pfauen,

Nur der Gänse Lebenslauf;

Meine Mutter zieht die grauen,

Meine Frau die weißen auf.


Laß den Witzling uns besticheln!

Glücklich, wenn ein deutscher Mann

Seinem Freunde Vetter Micheln

Guten Abend bieten kann.

Wie ist der Gedanke labend:

Solch ein Edler bleibt uns nah!

Immer sagt man: Gestern abend

War doch Vetter Michel da!


Und in unsern Liedern keimet

Silb aus Silbe, Wort aus Wort.

Ob sich gleich auf Deutsch nichts reimet,

Reimt der Deutsche dennoch fort.

Ob es kräftig oder zierlich,

Geht uns so genau nicht an;

Wir sind bieder und natürlich,

Und das ist genug getan.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 102-103.
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