An Luna

[36] Schwester von dem ersten Licht,

Bild der Zärtlichkeit in Trauer!

Nebel schwimmt mit Silberschauer[36]

Um dein reizendes Gesicht;

Deines leisen Fußes Lauf

Weckt aus tagverschloßnen Höhlen

Traurig abgeschiedne Seelen,

Mich und nächt'ge Vögel auf.


Forschend übersieht dein Blick

Eine großgemeßne Weite.

Hebe mich an deine Seite!

Gib der Schwärmerei dies Glück;

Und in wollustvoller Ruh

Säh der weitverschlagne Ritter

Durch das gläserne Gegitter

Seines Mädchens Nächten zu.


Des Beschauens holdes Glück

Mildert solcher Ferne Qualen,

Und ich sammle deine Strahlen,

Und ich schärfe meinen Blick;

Hell und heller wird es schon

Um die unverhüllten Glieder,

Und nun zieht sie mich hernieder,

Wie dich einst Endymion.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 36-37.
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