Liebebedürfnis

[338] Wer vernimmt mich? ach, wem soll ich's klagen?

Wer's vernähme, würd er mich bedauern?

Ach, die Lippe, die so manche Freude

Sonst genossen hat und sonst gegeben,

Ist gespalten, und sie schmerzt erbärmlich.

Und sie ist nicht etwa wund geworden,

Weil die Liebste mich zu wild ergriffen,

Hold mich angebissen, daß sie, fester

Sich des Freunds versichernd, ihn genösse:

Nein, das zarte Lippchen ist gesprungen,

Weil nun über Reif und Frost die Winde

Spitz und scharf und lieblos mir begegnen.


Und nun soll mir Saft der edlen Traube,

Mit dem Saft der Bienen bei dem Feuer

Meines Herds vereinigt, Lindrung schaffen.

Ach, was will das helfen, mischt die Liebe

Nicht ein Tröpfchen ihres Balsams drunter?
[338]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 338-339.
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