[Kenne wohl der Männer Blicke]

[88] Kenne wohl der Männer Blicke,

Einer sagt: Ich liebe, leide!

Ich begehre, ja verzweifle!

Und was sonst ist, kennt ein Mädchen.

Alles das kann mir nicht helfen,

Alles das kann mich nicht rühren;

Aber, Hatem, deine Blicke

Geben erst dem Tage Glanz.

Denn sie sagen: Die gefällt mir,

Wie mir sonst nichts mag gefallen.

Seh ich Rosen, seh ich Lilien,

Aller Gärten Zier und Ehre,

So Zypressen, Myrten, Veilchen,

Aufgeregt zum Schmuck der Erde;

Und geschmückt ist sie ein Wunder,

Mit Erstaunen uns umfangend,

Uns erquickend, heilend, segnend,

Daß wir uns gesundet fühlen,

Wieder gern erkranken möchten.

Da erblicktest du Suleika

Und gesundetest erkrankend,

Und erkranketest gesundend,

Lächeltest und sahst herüber,

Wie du nie der Welt gelächelt.

Und Suleika fühlt des Blickes

Ew'ge Rede: Die gefällt mir,

Wie mir sonst nichts mag gefallen.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 88-89.
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