XVII. Linnés Theorie von der Antizipation

[96] 107. Wenn ich, auf diesem Wege, den einer meiner Vorgänger, welcher ihn noch dazu an der Hand seines großen Lehrers versuchte, so fürchterlich und gefährlich beschreibt3, auch hie und da gestrauchelt hätte, wenn ich ihn nicht genugsam geebnet und zum Besten meiner Nachfolger von allen Hindernissen gereiniget hätte; so hoffe ich doch diese Bemühung nicht fruchtlos unternommen zu haben.


108. Es ist hier Zeit, der Theorie zu gedenken, welche Linné zu Erklärung ebendieser Erscheinungen aufgestellt. Seinem scharfen Blick konnten die Bemerkungen, welche auch gegenwärtigen Vortrag veranlaßt, nicht entgehen. Und wenn wir nunmehr da fortschreiten können, wo er stehenblieb, so sind wir es den gemeinschaftlichen Bemühungen so vieler Beobachter und Denker schuldig, welche manches Hindernis aus dem Wege geräumt, manches Vorurteil zerstreut haben. Eine genaue Vergleichung seiner Theorie und des oben Ausgeführten würde uns hier zu lange aufhalten. Kenner werden sie leicht selbst machen, und sie müßte zu[96] umständlich sein, um denen anschaulich zu werden, die über diesen Gegenstand noch nicht gedacht haben. Nur bemerken wir kürzlich, was ihn hinderte, weiter fort und bis ans Ziel zu schreiten.


109. Er machte seine Bemerkung zuerst an Bäumen, diesen zusammengesetzten und lange daurenden Pflanzen. Er beobachtete, daß ein Baum, in einem weitern Gefäße überflüssig genährt, mehrere Jahre hintereinander Zweige aus Zweigen hervorbringe, da derselbe, in ein engeres Gefäß eingeschlossen, schnell Blüten und Früchte trage. Er sahe, daß jene sukzessive Entwickelung hier auf einmal zusammengedrängt hervorgebracht werde. Daher nannte er diese Wirkung der Natur Prolepsis, eine Antizipation, weil die Pflanze, durch die sechs Schritte welche wir oben bemerkt haben, sechs Jahre vorauszunehmen schien. Und so führte er auch seine Theorie, bezüglich auf die Knospen der Bäume, aus, ohne auf die einjährigen Pflanzen besonders Rücksicht zu nehmen, weil er wohl bemerken konnte, daß seine Theorie nicht so gut auf diese als auf jene passe. Denn nach seiner Lehre müßte man annehmen, daß jede einjährige Pflanze eigentlich von der Natur bestimmt gewesen sei sechs Jahre zu wachsen, und diese längere Frist in dem Blüten- und Fruchtstande auf einmal antizipiere und sodann verwelke.


110. Wir sind dagegen zuerst dem Wachstum der einjährigen Pflanze gefolgt; nun läßt sich die Anwendung auf die daurenden Gewächse leicht machen, da eine aufbrechende Knospe des ältesten Baumes als eine einjährige Pflanze anzusehen ist, ob sie sich gleich aus einem schon lange bestehenden Stamme entwickelt und selbst eine längere Dauer haben kann.


111. Die zweite Ursache, welche Linnéen verhinderte weiter vorwärts zu gehen, war, daß er die verschiedenen ineinandergeschlossenen Kreise des Pflanzenkörpers, die äußere Rinde, die innere, das Holz, das Mark, zu sehr als gleichwirkende, in gleichem Grad lebendige und notwendige Teile ansah, und den Ursprung der Blumen- und Fruchtteile diesen verschiedenen Kreisen des Stammes zuschrieb, weil jene,[97] ebenso wie diese, von einander umschlossen und sich aus einander zu entwickeln scheinen. Es war dieses aber nur eine oberflächliche Bemerkung, welche näher betrachtet sich nirgend bestätiget. So ist die äußere Rinde zu weiterer Hervorbringung ungeschickt, und bei daurenden Bäumen eine nach außen zu verhärtete und abgesonderte Masse, wie das Holz nach innen zu verhärtet wird. Sie fällt bei vielen Bäumen ab, andern Bäumen kann sie, ohne den geringsten Schaden derselben, genommen werden; sie wird also weder einen Kelch, noch irgendeinen lebendigen Pflanzenteil hervorbringen. Die zweite Rinde ist es, welche alle Kraft des Lebens und Wachstums enthält. In dem Grad, in welchem sie verletzt wird, wird auch das Wachstum gestört, sie ist es, welche bei genauer Betrachtung alle äußeren Pflanzenteile nach und nach im Stengel, oder auf einmal in Blüte und Frucht hervorbringt. Ihr wurde von Linnéen nur das subordinierte Geschäft die Blumenblätter hervorzubringen zugeschrieben. Dem Holze ward dagegen die wichtige Hervorbringung der männlichen Staubwerkzeuge zuteil; anstatt daß man gar wohl bemerken kann, es sei dasselbe ein durch Solideszenz zur Ruhe gebrachter, wenn gleich daurender, doch der Lebenswirkung abgestorbener Teil. Das Mark sollte endlich die wichtigste Funktion verrichten, die weiblichen Geschlechtsteile und eine zahlreiche Nachkommenschaft hervorbringen. Die Zweifel, welche man gegen diese große Würde des Markes erregt, die Gründe, die man dagegen angeführt hat, sind auch mir wichtig und entscheidend. Es war nur scheinbar, als wenn sich Griffel und Frucht aus dem Mark entwickelten, weil diese Gestalten, wenn wir sie zum erstenmal erblicken, in einem weichen, unbestimmten markähnlichen, parenchymatosen Zustande sich befinden, und eben in der Mitte des Stengels, wo wir uns nur Mark zu sehen gewöhnt haben, zusammengedrängt sind.

3

Ferber, in Praefatione Dissertationis secundae de Prolepsi Plantarum.

Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 13, Hamburg 1948 ff, S. 96-98.
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