VII. Nektarien

[79] 51. So schnell der Übergang bei manchen Pflanzen von der Krone zu den Staubwerkzeugen ist, so bemerken wir doch, daß die Natur nicht immer diesen Weg mit einem Schritt zurücklegen kann. Sie bringt vielmehr Zwischenwerkzeuge hervor, welche an Gestalt und Bestimmung sich bald dem einen, bald dem andern Teile nähern und, obgleich ihre[79] Bildung höchst verschieden ist, sich dennoch meist unter einen Begriff vereinigen lassen: daß es langsame Übergänge von den Kronenblättern zu den Staubgefäßen seien.


52. Die meisten jener verschieden gebildeten Organe, welche Linné mit dem Namen Nektarien bezeichnet, lassen sich unter diesem Begriff vereinigen; und wir finden auch hier Gelegenheit, den großen Scharfsinn des außerordentlichen Mannes zu bewundern, der, ohne sich die Bestimmung dieser Teile ganz deutlich zu machen, sich auf eine Ahndung verließ, und sehr verschieden scheinende Organe mit einem Namen zu belegen wagte.


53. Es zeigen uns verschiedene Kronenblätter schon ihre Verwandtschaft mit den Staubgefäßen dadurch, daß sie, ohne ihre Gestalt merklich zu verändern, Grübchen oder Glandeln an sich tragen, welche einen honigartigen Saft abscheiden. Daß dieser eine noch unausgearbeitete, nicht völlig determinierte Befruchtungs-Feuchtigkeit sei, können wir in den schon oben angeführten Rücksichten einigermaßen vermuten, und diese Vermutung wird durch Gründe, welche wir unten anführen werden, noch einen höhern Grad von Wahrscheinlichkeit erreichen.


54. Nun zeigen sich auch die sogenannten Nektarien als für sich bestehende Teile; und dann nähert sich ihre Bildung bald den Kronenblättern, bald den Staubwerkzeugen. So sind z. E. die dreizehn Fäden, mit ihren ebenso vielen roten Kügelchen, auf den Nektarien der Parnassia den Staubwerkzeugen höchst ähnlich. Andere zeigen sich als Staubfäden ohne Antheren, als an der Vallisneria, der Fevillea; wir finden sie an der Pentapetes in einem Kreise mit den Staubwerkzeugen regelmäßig abwechseln, und zwar schon in Blattgestalt; auch werden sie in der systematischen Beschreibung als Filamenta castrata petaliformia angeführt. Ebensolche schwankende Bildungen sehen wir an der Kiggellaria und der Passionsblume.


55. Gleichfalls scheinen uns die eigentlichen Nebenkronen den Namen der Nektarien in dem oben angegebenen Sinne[80] zu verdienen. Denn wenn die Bildung der Kronenblätter durch eine Ausdehnung geschieht, so werden dagegen die Nebenkronen durch eine Zusammenziehung, folglich auf eben die Weise wie die Staubwerkzeuge gebildet. So sehen wir, innerhalb vollkommener ausgebreiteter Kronen, kleinere zusammengezogene Nebenkronen, wie im Narzissus, dem Nerium, dem Agrostemma.


56. Noch sehen wir bei verschiedenen Geschlechtern andere Veränderungen der Blätter, welche auffallender und merkwürdiger sind. Wir bemerken an verschiedenen Blumen, daß ihre Blätter inwendig, unten, eine kleine Vertiefung haben, welche mit einem honigartigen Safte ausgefüllt ist. Dieses Grübchen, indem es sich bei andern Blumengeschlechtern und Arten mehr vertieft, bringt auf der Rückseite des Blatts eine sporn- oder hornartige Verlängerung hervor, und die Gestalt des übrigen Blattes wird sogleich mehr oder weniger modifiziert. Wir können dieses an verschiedenen Arten und Varietäten des Agleis genau bemerken.


57. Im höchsten Grad der Verwandlung Endet man dieses Organ z.B. bei dem Aconitum und der Nigella, wo man aber doch mit geringer Aufmerksamkeit ihre Blattähnlichkeit bemerken wird; besonders wachsen sie bei der Nigella leicht wieder in Blätter aus, und die Blume wird durch die Umwandlung der Nektarien gefüllt. Bei dem Aconito wird man mit einiger aufmerksamen Beschauung die Ähnlichkeit der Nektarien und des gewölbten Blattes, unter welchem sie verdeckt stehen, erkennen.


58. Haben wir nun oben gesagt, daß die Nektarien Annäherungen der Kronenblätter zu den Staubgefäßen seien, so können wir bei dieser Gelegenheit über die unregelmäßigen Blumen einige Bemerkungen machen. So könnten z. E. die fünf äußern Blätter des Melianthus als wahre Kronenblätter aufgeführt, die fünf innern aber als eine Nebenkrone, aus sechs Nektarien bestehend, beschrieben werden, wovon das obere sich der Blattgestalt am meisten nähert, das untere, das auch jetzt schon Nektarium heißt, sich am weitsten von ihr entfernt. In ebendem Sinne könnte man die Karina der[81] Schmetterlings-Blumen ein Nektarium nennen, indem sie unter den Blättern dieser Blume sich an die Gestalt der Staubwerkzeuge am nächsten heranbildet, und sich sehr weit von der Blattgestalt des sogenannten Vexilli entfernt.

Wir werden auf diese Weise die pinselförmigen Körper, welche an dem Ende der Karina einiger Arten der Polygala befestigt sind, gar leicht erklären, und uns von der Bestimmung dieser Teile einen deutlichen Begriff machen können.


59. Unnötig würde es sein, sich hier ernstlich zu verwahren, daß es bei diesen Bemerkungen die Absicht nicht sei, das durch die Bemühungen der Beobachter und Ordner bisher Abgesonderte und in Fächer Gebrachte zu verwirren; man wünscht nur, durch diese Betrachtungen die abweichenden Bildungen der Pflanzen erklärbarer zu machen.

Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 13, Hamburg 1948 ff, S. 79-82.
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