Einleitung

[247] Wird einer strebenden Jugend die Geschichte eher lästig als erfreulich, weil sie gern von sich selbst eine neue, ja wohl gar eine Urwelt-Epoche beginnen möchte, so haben die in Bildung und Alter Fortschreitenden gar oft mit lebhaftem Danke zu erkennen, wie mannigfaltiges Gute, Brauchbare und Hülfreiche ihnen von den Vorfahren hinterlassen worden.

Nichts ist stillstehend. Bei allen scheinbaren Rückschritten müssen Menschheit und Wissenschaft immer vorschreiten, und wenn beide sich zuletzt auch wieder in sich selbst abschließen sollten. Vorzügliche Geister haben sich immer gefunden, die sich mitteilen mochten. Viel Schätzenswertes hievon ist auf uns gekommen, woraus wir uns überzeugen können, daß es unsern Vorfahren an treffenden Ansichten der Natur nie gefehlt habe.

Der Kreis, den die Menschheit auszulaufen hat, ist bestimmt genug, und ungeachtet des großen Stillstandes, den die Barbarei machte, hat sie ihre Laufbahn schon mehr als einmal zurückgelegt. Will man ihr auch eine Spiralbewegung zuschreiben, so kehrt sie doch immer wieder in jene Gegend, wo sie schon einmal durchgegangen. Auf diesem Wege wiederholen sich alle wahren Ansichten und alle Irrtümer.

Um sich von der Farbenlehre zu unterrichten, mußte man die ganze Geschichte der Naturlehre wenigstens durchkreuzen und die Geschichte der Philosophie nicht außer acht lassen. Eine gedrängte Darstellung wäre zu wünschen gewesen; aber sie war unter den gegebenen Umständen nicht zu leisten. Wir mußten uns daher entschließen, nur Materialien zur Geschichte der Farbenlehre zu liefern, und hiezu das, was sich bei uns aufgehäuft hatte, einigermaßen sichten.

Was wir unter jenem Ausdrucke verstehen, wird nicht schwer zu deuten sein. Wer Materialien zu einem Gebäude liefert, bringt immer mehr und weniger, als erforderlich ist.[247] Denn dem Herbeigeschafften muß öfters so viel genommen werden, nur um ihm eine Form zu geben, und an dasjenige, was eigentlich zur letzten besten Zierde gereicht, daran pflegt man zu Anfang einer Bauanstalt am wenigsten zu denken.

Wir haben Auszüge geliefert und fanden uns hiezu durch mehrere Ursachen bewogen. Die Bücher, welche hier zu Rate gezogen werden mußten, sind selten zu haben, wo nicht in großen Städten und wohlausgestatteten Bibliotheken, doch gewiß an manchen mittlern und kleinen Orten, von deren teilnehmenden Bewohnern und Lehrern wir unsre Arbeit geprüft und genutzt wünschten. Deshalb sollte dieser Band eine Art Archiv werden, in welchem niedergelegt wäre, was die vorzüglichsten Männer, welche sich mit der Farbenlehre befaßt, darüber ausgesprochen.

Auch trat noch eine besondre Betrachtung ein, welche sowohl hier als in der Geschichte der Wissenschaften überhaupt gilt. Es ist äußerst schwer, fremde Meinungen zu referieren, besonders wenn sie sich nachbarlich annähern, kreuzen und decken. Ist der Referent umständlich, so erregt er Ungeduld und lange Weile; will er sich zusammenfassen, so kommt er in Gefahr, seine Ansicht für die fremde zu geben; vermeidet er zu urteilen, so weiß der Leser nicht, woran er ist; richtet er nach gewissen Maximen, so werden seine Darstellungen einseitig und erregen Widerspruch, und die Geschichte macht selbst wieder Geschichten.

Ferner sind die Gesinnungen und Meinungen eines bedeutenden Verfassers nicht so leicht auszusprechen. Alle Lehren, denen man Originalität zuschreiben kann, sind nicht so leicht gefaßt, nicht so geschwind epitomiert und systematisiert. Der Schriftsteller neigt sich zu dieser oder jener Gesinnung; sie wird aber durch seine Individualität, ja oft nur durch den Vortrag, durch die Eigentümlichkeit des Idioms, in welchem er spricht und schreibt, durch die Wendung der Zeit, durch mancherlei Rücksichten modifiziert. Wie wunderbar verhält sich nicht Gassendi zu Epikur!

Ein Mann, der länger gelebt, ist verschiedene Epochen[248] durchgegangen; er stimmt vielleicht nicht immer mit sich selbst überein; er trägt manches vor, davon wir das eine für wahr, das andre für falsch ansprechen möchten: alles dieses darzustellen, zu sondern, zu bejahen, zu verneinen, ist eine unendliche Arbeit, die nur dem gelingen kann, der sich ihr ganz widmet und ihr sein Leben aufopfern mag.

Durch solche Betrachtungen veranlaßt, durch solche Nötigungen gedrängt, lassen wir meistens die Verfasser selbst sprechen; ja wir hätten die Originale lieber als die Übersetzung geliefert, wenn uns nicht eine gewisse Gleichförmigkeit und allgemeinere Brauchbarkeit zu dem Gegenteil bewogen hätte. Der einsichtsvolle Leser wird sich mit jedem besonders unterhalten; wir haben gesucht, ihm sein Urteil zu erleichtern, nicht ihm vorzugreifen. Die Belege sind bei der Hand, und ein fähiger Geist wird sie leicht zusammenschmelzen. Die Wiederholung am Schlusse wird hiezu behülflich sein.

Wollte man uns hier noch eine heitere Anmerkung erlauben, so würden wir sagen: daß durch diese Art, jeden Verfasser seinen Irrtum wie seine Wahrheit frei aussprechen zu lassen, auch für die Freunde des Unwahren und Falschen gesorgt sei, denen hierdurch die beste Gelegenheit verschafft wird, dem Seltsamsten und am wenigsten Haltbaren ihren Beifall zuzuwenden.

Nach diesem Ersten, welches eigentlich den Grund unserer Bemühung ausmacht, haben wir charakteristische Skizzen, einzelne biographische Züge, manchen bedeutenden Mann betreffend, aphoristisch mitgeteilt. Sie sind aus Notizen entstanden, die wir zu künftigem unbestimmten Gebrauch, beim Durchlesen ihrer Schriften, bei Betrachtung ihres Lebensganges, aufgezeichnet. Sie machen keinen Anspruch, ausführlich zu schildern oder entschieden abzuurteilen; wir geben sie, wie wir sie fanden: denn nicht immer waren wir in dem Falle, bei Redaktion dieser Papiere alles einer nochmaligen Prüfung zu unterwerfen.

Mögen sie nur dastehen, um zu erinnern, wie höchst bedeutendes sei, einen Autor als Menschen zu betrachten; denn wenn man behauptet hat: schon der Stil eines Schriftstellers sei der[249] ganze Mann, wieviel mehr sollte nicht der ganze Mensch den ganzen Schriftsteller enthalten. Ja eine Geschichte der Wissenschaften, insofern diese durch Menschen behandelt worden, zeigt ein ganz anderes und höchst belehrendes Ansehen, als wenn bloß Entdeckungen und Meinungen aneinander gereiht werden.

Vielleicht ist auch noch auf eine andre Weise nötig, dasjenige zu entschuldigen, was wir zu viel getan. Wir gaben Nachricht von Autoren, die nichts oder wenig für die Farbenlehre geleistet, jedoch nur von solchen, die für die Naturforschung überhaupt bedeutend waren. Denn wie schwierig es sei, die Farbenlehre, die sich überall gleichsam nur durchschmiegt, von dem übrigen Wissen einigermaßen zu isolieren und sie dennoch wieder zusammen zu halten, wird jedem Einsichtigen fühlbar sein.

Und so haben wir, um eines durchgehenden Fadens nicht zu ermangeln, allgemeine Betrachtungen eingeschaltet, den Gang der Wissenschaften in verschiedenen Epochen flüchtig bezeichnet, auch die Farbenlehre mit durchzuführen und anzuknüpfen gesucht. Daß hiebei mancher Zufall gewaltet, manches einer augenblicklichen Stimmung seinen Ursprung verdankt, kann nicht geleugnet werden. Indessen wird man einige Launen auch wohl einer ernsten Sammlung verzeihen, zu einer Zeit, in der ganze wetterwendische Bücher mit Vergnügen und Beifall aufgenommen werden.

Wie manches nachzubringen sei, wird erst in der Folge recht klar werden, wenn die Aufmerksamkeit mehrerer auf diesen Gegenstand sich richtet. Verschiedene Bücher sind uns ungeachtet aller Bemühungen nicht zu Handen gekommen; auch wird man finden, daß Memoiren der Akademien, Journale und andre dergleichen Sammlungen nicht genugsam genutzt sind. Möchten doch mehrere, selbst diejenigen, die, um anderer Zwecke willen, alte und neue Werke durchgehen, gelegentlich notieren, was ihnen für unser Fach bedeutend scheint, und es gefällig mitteilen; wie wir denn schon bisher manchen Freunden für eine solche Mitteilung den besten Dank schuldig geworden.[250]

Quelle:
Johann Wolfgang Goethe. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Band 1–24 und Erg.-Bände 1–3, Band 16, Zürich 1948 ff, S. 247-251.
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