Vierter Brief

[225] Sie haben mir, meine Herren, abermals einen überzeugenden Beweis Ihres freundschaftlichen Andenkens gegeben, indem Sie mir die ersten Stücke der »Propyläen« nicht nur so bald zugesendet, sondern mir außerdem noch manches im Manuskripte mitgeteilt, das mir, bei mehrerer Breite, Ihre Absichten deutlicher sowie die Wirkung lebhafter macht. Sie haben den Zuruf am Schlusse meines vorigen Briefes recht schön und freundlich erwidert, und ich danke Ihnen für die günstige Aufnahme, womit Sie die kurze Geschichte meiner Sammlung beehren.

Ihre gedruckten, Ihre geschriebenen Blätter riefen mir und den Meinigen jene angenehmen Stunden zurück, die[225] Sie mir damals verschafften, als Sie, der üblen Jahrszeit ungeachtet, einen ziemlichen Umweg machten, um die Sammlung eines Privatmannes kennenzulernen, die Ihnen in manchen Fächern genugtat und deren Besitzer von Ihnen ohne langes Bedenken mit einer aufrichtigen Freundschaft beglückt ward. Die Grundsätze, die Sie damals äußerten, die Ideen, womit Sie sich vorzüglich beschäftigten, finde ich in diesen Blättern wieder, ich sehe, Sie sind unverrückt auf Ihrem Wege geblieben, Sie sind vorgeschritten, und so darf ich hoffen, daß Sie nicht ohne Interesse vernehmen werden, wie es mir in meinem Kreise ergangen ist und ergeht. Ihre Schrift muntert, Ihr Brief fordert mich auf. Die Geschichte meiner Sammlung ist in Ihren Händen, auch darauf kann ich weiter bauen: denn nun habe ich Ihnen einige Wünsche, einige Bekenntnisse vorzulegen.

Bei Betrachtung der Kunstwerke eine hohe, unerreichbare Idee immer im Sinne zu haben, bei Beurteilung dessen, was der Künstler geleistet hat, den großen Maßstab anzuschlagen, der nach dem Besten, was wir kennen, eingeteilt ist, eifrig das Vollkommenste aufzusuchen, den Liebhaber sowie den Künstler immer an die Quelle zu weisen, ihn auf hohe Standpunkte zu versetzen, bei der Geschichte wie bei der Theorie, bei dem Urteil wie in der Praxis immer gleichsam auf ein Letztes zu dringen, ist löblich und schön, und eine solche Bemühung kann nicht ohne Nutzen bleiben.

Sucht doch der Wardein auf alle Weise die edlern Metalle zu reinigen, um ein bestimmtes Gewicht des reinen Goldes und Silbers als einen entschiednen Maßstab aller Vermischungen, die ihm vorkommen, festzusetzen! Man bringe alsdann so viel Kupfer, als man will, wieder dazu, man vermehre das Gewicht, man vermindere den Wert, man bezeichne die Münzen, die Silbergeschirre nach gewissen Konventionen, alles ist recht gut! die schlechteste Scheidemünze, ja das Gemünder Silber selbst mag passieren; denn der Probierstein, der Schmelztiegel ist gleich bereit, eine entschiedene Probe des innern Wertes anzustellen.[226]

Ohne Sie daher, meine Herren, wegen Ihres Ernstes, wegen Ihrer Strenge zu tadeln, möchte ich, im Bezug auf mein Gleichnis, Sie auf gewisse mittlere Fächer aufmerksam machen, die der Künstler sowie der Liebhaber fürs gemeine Leben nicht entbehren kann.

Zu diesen Wünschen und Vorschlägen kann ich denn doch nicht unmittelbar übergehen, ich habe noch etwas in Gedanken, eigentlich auf dem Herzen. Es muß ein Bekenntnis getan werden, das ich nicht zurückhalten kann, ohne mich Ihrer Freundschaft völlig unwert zu fühlen. Beleidigen kann es Sie nicht, auch nicht einmal verdrießen, es sei daher gewagt! Jeder Fortschritt ist ein Wagestück, und nur durch Wagen kommt man entschieden vorwärts. Und nun hören Sie geschwind, damit Sie das, was ich zu sagen habe, nicht für wichtiger halten, als es ist.

Der Besitzer einer Sammlung, der sie, wenn er sie auch noch so gern vorweist, doch immer zu oft vorweisen muß, wird nach und nach, er sei übrigens noch so gut und harmlos, ein wenig tückisch werden. Er sieht ganz fremde Menschen bei Gegenständen, die ihm völlig bekannt sind, aus dem Stegreife ihre Empfindungen und Gedanken äußern. Mit Meinungen über politische Verhältnisse gegen einen Fremden herauszugehen, findet sich nicht immer Veranlassung, und die Klugheit verbietet es; Kunstwerke reizen auf, und vor ihnen geniert sich niemand, niemand zweifelt an seiner eignen Empfindung, und daran hat man nicht unrecht; niemand zweifelt an der Richtigkeit seines Urteils, und daran hat man nicht ganz recht.

Solange ich mein Kabinett besitze, ist mir ein einziger Mann vorgekommen, der mir die Ehre antat, zu glauben, daß ich den Wert meiner Sachen zu beurteilen wisse; er sagte zu mir: »Ich habe nur kurze Zeit, lassen Sie mich in jedem Fache das Beste, das Merkwürdigste, das Seltenste sehen!« Ich dankte ihm, indem ich ihn versicherte, daß er der erste sei, der so verfahre, und ich hoffe, sein Zutrauen hat ihn nicht gereut, wenigstens schien er äußerst zufrieden[227] von mir zu gehen. Ich will eben nicht sagen, daß er ein besonderer Kenner oder Liebhaber gewesen wäre, auch zeugte vielleicht eben sein Betragen von einer gewissen Gleichgültigkeit, ja vielleicht ist uns ein Mann interessanter, der einen einzelnen Teil liebt, als der, der das Ganze nur schätzt; genug, dieser verdiente erwähnt zu werden, weil er der erste war und der letzte blieb, dem meine heimliche Tücke nichts anhaben konnte.

Denn auch Sie, meine Herren, daß ich es nur gestehe, haben meiner stillen Schadenfreude einige Nahrung gegeben, ohne daß meine Verehrung, meine Liebe für Sie dadurch gelitten hätte. Nicht allein, daß ich Ihnen die Mädchen aus dem Gesicht brachte – verzeihen Sie, ich mußte heimlich lächeln, wenn Sie von dem Antikenschrank, von den Bronzen, die wir eben durchsahen, immer nach der Türe schielten, die aber nicht wieder aufgehen wollte. Die Kinder waren verschwunden und hatten den Frühstückswein mit den Zwiebacken stehenlassen, mein Wink hatte sie entfernt, denn ich wollte meinen Altertümern eine ungeteilte Aufmerksamkeit verschaffen. Verzeihen Sie dieses Bekenntnis und erinnern Sie sich, daß ich Sie des andern Morgens möglichst entschädigte, indem ich Ihnen im Gartenhause nicht allein die gemalten, sondern auch die lebendigen Familienbilder vorstellte und Ihnen bei einer reizenden Aussicht auf die Gegend das Vergnügen einer fröhlichen Unterhaltung verschaffte – nicht allein, sagte ich – und muß wohl, da mir diese lange Einschaltung meinen Perioden verdorben hat, ihn wieder anders anfangen.

Sie erzeigten mir bei Ihrem Eintritt auch eine besondere Ehre, indem Sie anzunehmen schienen, daß ich Ihrer Meinung sei, daß ich diejenigen Kunstwerke, welche Sie ausschließlich schätzten, auch vorzüglich zu schätzen wisse, und ich kann wohl sagen, meistens trafen unsere Urteile zusammen, hie und da glaubte ich eine leidenschaftliche Vorliebe, auch wohl ein Vorurteil zu entdecken; ich ließ es hingehen und verdankte Ihnen die Aufmerksamkeit[228] auf verschiedene unscheinbare Dinge, deren Wert ich unter der Menge übersehen hatte.

Nach Ihrer Abreise blieben Sie ein Gegenstand unserer Gespräche, wir verglichen Sie mit andern Fremden, die bei uns eingesprochen hatten, und wurden dadurch auf eine allgemeinere Vergleichung unserer Besuche geleitet. Wir fanden eine große Verschiedenheit der Liebhabereien und Gesinnungen, doch zeigten sich gewisse Neigungen mehr oder weniger in verschiedenen Personen wieder, wir fingen an, die ähnlichen wieder zusammenzustellen, und das Buch, worin die Namen aufgezeichnet sind, half der Erinnerung nach. Auch für die Zukunft war unsere Tücke in Aufmerksamkeit verwandelt, wir beobachteten unsere Gäste genauer und rangierten sie zu den übrigen Gruppen.

Ich habe immer wir gesagt, denn ich zog meine Mädchen diesmal, wie immer, mit ins Geschäft. Julie war besonders tätig und hatte viel Glück, ihre Leute gleich recht zu placieren. Denn es ist den Frauen angeboren, die Neigungen der Männer genau zu kennen. Doch gedachte Karoline solcher Freunde nicht zum besten, welche die schönen und seltnen Stücke englischer schwarzer Kunst, womit sie ihr stilles Zimmer ausgeschmückt hatte, nicht recht lebhaft preisen wollten. Darunter gehörten denn auch Sie, ohne daß Ihnen dieser Mangel der Empfänglichkeit bei dem guten Kinde viel geschadet hätte.

Liebhaber von unserer Art, denn es ist doch natürlich, daß wir von denen zuerst sprechen, finden sich, genau betrachtet, gar manche, wenn man ein wenig Vorurteil auf oder ab, mehr oder weniger Lebhaftigkeit oder Bedacht, Biegsamkeit oder Strenge nicht eben in Anschlag bringt, und deswegen hoffe ich günstig für Ihre »Propyläen«, nicht allein weil ich gleichgesinnte Personen vermute, sondern weil ich wirklich gleichgesinnte Personen kenne.

Wenn ich also in diesem Sinne Ihren Ernst in der Kunst, Ihre Strenge gegen Künstler und Liebhaber nicht tadeln[229] kann, so muß ich doch, in Betracht der vielerlei Menschenkinder, die Ihre Schrift lesen sollen, und wenn sie nur von denen gelesen würde, die meine Sammlung gesehen haben, noch einiges zum Besten der Kunst und der Kunstfreunde wünschen, und zwar einesteils, daß Sie eine gewisse heitere Liberalität gegen alle Kunstfächer zeigten, den beschränktesten Künstler und Kunstliebhaber schätzten, sobald jeder nur ohne sonderliche Anmaßung sein Wesen treibt; andernteils aber kann ich Ihnen nicht genug Widerstreit gegen diejenigen empfehlen, die von beschränkten Ideen ausgehen und mit einer unheilbaren Einseitigkeit einen vorgezogenen und beschützten Teil der Kunst zum Ganzen machen wollen. Lassen Sie uns zu diesen Zwecken eine neue Art von Sammlung ordnen, die diesmal nicht aus Bronzen und Marmorstücken, nicht aus Elfenbein noch Silber bestehen soll, sondern worin der Künstler, der Kenner und besonders der Liebhaber sich selbst wiederfinde.

Freilich kann ich Ihnen nur den leichtesten Entwurf senden, alles, was Resultat ist, zieht sich ins Enge zusammen, und mein Brief ist ohnehin schon lang genug. Meine Einleitung ist ausführlich, und meinen Schluß sollen Sie mir selbst ausführen helfen.

Unsere kleine Akademie richtete, wie es gewöhnlich geschieht, erst spät ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst, und bald fanden wir in unserer Familie fast für alle die verschiedenen Gruppen einen Gesellschafter.

Es gibt Künstler und Liebhaber, welche wir die Nachahmer genannt haben, und wirklich ist die eigentliche Nachahmung, auf einen hohen und schätzbaren Punkt getrieben, ihr einziger Zweck, ihre höchste Freude; mein Vater und mein Schwager gehörten dazu, und die Liebhaberei des einen sowie die Kunst des andern ließ in diesem Fache fast nichts weiter übrig. Die Nachahmung kann nicht ruhen, bis sie die Abbildung womöglich an die Stelle des Abgebildeten setzt.[230]

Weil nun hierzu eine große Genauigkeit und Reinheit erfordert wird, so stehet ihnen eine andere Klasse nah, welche wir die Punktierer genannt haben; bei diesen ist die Nachbildung nicht das Vorzüglichste, sondern die Arbeit. Ein solcher Gegenstand scheint ihnen der liebste, bei dem sie die meisten Punkte und Striche anbringen können. Bei diesen wird Ihnen die Liebhaberei meines Oheims sogleich einfallen. Ein Künstler dieser Art strebt gleichsam, den Raum ins unendliche zu füllen und uns sinnlich zu überzeugen, daß man die Materie ins unendliche teilen könne. Sehr schätzbar erscheint dieses Talent, wenn es das Bildnis einer würdigen, einer werten Person dergestalt ins kleine bringt, daß wir das, was unser Herz als Kleinod erkennt, auch vor unserm Auge mit allen seinen äußern Eigenschaften neben und mit Kleinodien erscheinen sehen.

Auch hat die Naturgeschichte solchen Männern viel zu verdanken.

Als wir von dieser Klasse sprachen, mußte ich mir wohl selbst einfallen, der ich mit meiner frühern Liebhaberei eigentlich ganz im Gegensatze mit jenen stand. Alle diejenigen, die mit wenigen Strichen zu viel leisten wollen, wie die vorigen mit vielen Strichen und Punkten oft vielleicht zu wenig leisten, nannten wir Skizzisten. Hier ist nämlich nicht die Rede von Meistern, welche den allgemeinen Entwurf zu einem Werke, das ausgeführt werden soll, zu eigner und fremder Beurteilung erst hinschreiben, denn diese machen erst eine Skizze; Skizzisten nennt man aber diejenigen mit Recht, welche ihr Talent nicht weiter als zu Entwürfen ausbilden und also nie das Ende der Kunst, die Ausführung, erreichen; so wie der Punktierer den wesentlichen Anfang der Kunst, die Erfindung, das Geistreiche oft nicht gewahr wird.

Der Skizzist hat dagegen meist zuviel Imagination, er liebt sich poetische, ja phantastische Gegenstände und ist immer ein bißchen übertrieben im Ausdruck.

Selten fällt er in den Fehler, zu weich oder unbedeutend[231] zu sein, diese Eigenschaft ist vielmehr sehr oft mit einer guten Ausführung verbunden.

Für die Rubrik, in welcher das Weiche, das Gefällige, das Anmutige herrschend ist, hat sich Karoline sogleich erklärt und feierlich protestiert, daß man dieser Klasse keinen Spitznamen geben möge; Julie hingegen überläßt sich und ihre Freunde, die poetisch geistreichen Skizzisten und Ausführer, dem Schicksal und einem strengern oder liberalern Urteil.

Von den Weichlichen kamen wir natürlicherweise auf die Holzschnitte und Kupferstiche der frühern Meister, deren Werke, ungeachtet ihrer Strenge, Härte und Steifheit, uns durch einen gewissen derben und sichern Charakter noch immer erfreuen.

Dann fielen uns noch verschiedene Arten ein, die aber vielleicht schon in die vorigen eingeteilt werden können, als da sind Karikaturzeichner, die nur das bedeutend Widerwärtige, physisch und moralisch Häßliche heraussuchen, Improvisatoren, die mit großer Geschicklichkeit und Schnelligkeit alles aus dem Stegreif entwerfen, gelehrte Künstler, deren Werke man nicht ohne Kommentar versteht, gelehrte Liebhaber, die auch das einfachste, natürlichste Werk nicht ohne Kommentar lassen können, und was noch andere mehr waren, davon ich künftig mehr sagen will; für diesmal aber schließe ich mit dem Wunsche, daß das Ende meines Briefs, wenn es Ihnen Gelegenheit gibt, sich über meine Anmaßung lustig zu machen, Sie mit dem Anfange desselben versöhnen möge, wo ich mich vermaß, einige liebenswürdige Schwachheiten geschätzter Freunde zu belächeln. Geben Sie mir das gleiche zurück, wenn Ihnen mein Unterfangen nicht widerwärtig scheint, schelten Sie mich, zeigen Sie mir auch meine Eigenheiten im Spiegel, Sie vermehren dadurch den Dank, nicht aber die Anhänglichkeit Ihres

ewig verbundenen.[232]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe.Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 19, Berlin 1960 ff, S. 225-233.
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