Der Schwan im Frauenberge.

[224] Bei Sondershausen, im Fürstenthume Schwarzburg, liegt gegen Abend ein hoher Berg, der Frauenberg genannt. Hier stand in den Zeiten des grauesten Alterthums das Bild der Göttin Jecha, in welchem die Thüringer ihre Diana verehrten. Sie wallfahrteten fleißig zu ihr auf den Gipfel des Berges, den damals dunkle heilige Haine bedeckten, und opferten reichliche Gaben an Wildpret und Geflügel. Am häufigsten geschah dieß zur Zeit des heutigen Osterfestes, wo der lieben Frau, so nannte man sie, unbeschreiblich viele Opfer dargebracht wurden. Mit Bonifaz Erscheinen verschwand aber ihr Bild und an die Stelle trat die Mutter Maria, der Bonifaz auf dem Berge einen Tempel[225] erbauen ließ. Auch zu diesem wallfahrtet man, auch ihr brachte man reichliche Opfer.

Die Zeit hat jetzt jede Spur dieses Tempels verwischt, und der heilige Hain ist nicht mehr, aber das Volk besteigt noch immer am dritten Ostertage den Berg in großen Schaaren. Warum? das weiß es wohl selbst nicht, es ist einmal so der Gebrauch. Man geht hin, es regne oder schneie, ergötzt sich an der schönen Aussicht, und nimmt von den kleinen Schraubenschnecken, die nur an diesem Berge leben, einige als Wahrzeichen mit zurück.

Das Mährchen vom Schwan im Frauenberge, das erzählt bei dieser Wallfahrt aber gewiß manches Mütterchen dem zarten Kinde, wenn es am Fuße des Berges im Dorfe Jechaburg an dem krystallhellen Brunnen sich erquickt.

»Siehst du das helle Wässerchen? siehst du, wie es aus dem Innern des Berges hervorquillt? weißt du, wo es herkommt? –[226] Ich will dir's erzählen. Der Berg, vor dem wir da stehen, ist ganz hohl. Horch, wie dumpf es klingt, wenn ich mit dem Fuße stampfe! Sieh, in dem hohlen Berge ist ein großer, großer See. Ueber dem See spannt sich ein lieblich blauer Himmelsbogen aus, der ist mit vielen schönen funkelnden Sternen besäet, die flimmern und glänzen gar herrlich in dem See. Auf der ruhigen Wasserfläche rudert seit Anbeginn der Welt in ewigen Kreisen ein silberweißer Schwan, der lebt vom Ausfluß des Glanzes der Sterne, und hält im Schnabel einen güldenen prächtigen Ring. Als der liebe Gott die Erde schuf, da gab er ihm selbst den Ring in den Schnabel, damit er die Welt im Gleichgewicht erhielte. Wenn einmal der Schwan den Ring fallen läßt, dann geht die Erde unter, dann ist das Ende der Welt. Merke es dir, dann ist das Ende der Welt.«


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[227] Die Entstehung dieser lieblichen Dichtung, die mir von einem Freunde solcher Volksmythen in Sondershausen mitgetheilt ist, soll, seiner Meinung nach, folgende seyn: Als die Jechaburg, welche neben den Tempel der Maria nach Bonifaz Zeiten erbaut ward, im Jahre 933 durch die Hunnen belagert und erobert wurde, hatten die Mönche des Klosters während der Belagerung viele kostbare Schätze auf dem Berge verscharrt. Um nun zu verhindern, daß auf der zerstörten Stätte nicht nach Schätzen, die hier befindlich seyn könnten, gegraben und ihr Verscharrtes gefunden werden möchte, brachten sie das Mährchen vom silberweißen Schwan unter's Volk, und sagten; es sey sehr gefährlich, auf dem Berge starke Erschütterungen vorzunehmen, zu hacken, oder zu graben; denn man könne leicht die dünne Oberfläche des Berges durchhauen, der Schwan werde durch das[228] Eindringen des Tageslichts erschrecken, den Ring fallen lassen, und dann gehe die Welt unter. Das gutmüthige Volk glaubte es, nicht erwägend, daß ja die Burg ohne solche Erschütterungen weder erbaut, noch zerstört werden konnte.

Quelle:
Friedrich Gottschalck: Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen 1 [mehr nicht erschienen]. Halle 1814, S. 224-229.
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