Bey dem Grabe eines rechtschaffenen Geistlichen im Holsteinischen

[373] 1727 den 20 May.


Im Namen seines Sohnes.


Mein Vater! ach wie tief, wie sehr betrübst du mich!

Du stirbst, o Schmerzenswort! im Sommer deiner Jahre;

Dein Angesicht erblaßt, die Augen brechen sich,

Die Glieder werden starr und füllen Sarg und Baare.

O längst besorgter Fall! o bitter Schmerzenstag!

Ich sah dir ja bisher bekümmert gnug entgegen;

Und da du endlich kömmst, so scheint dein harter Schlag,

Mich mit dem Vater selbst in Staub und Grab zu legen.

Ich weis nicht, wie mir war, als ich das Siegel brach;

Ich las und wußte kaum des Schreibens Sinn zu finden:

Denn weil fast jedes Wort von Tod und Trauern sprach,

So schien mir unvermerkt Gesicht und Witz zu schwinden.

Kaum ward mir durch ein Wort die Schreckenspost bewußt,

So lief der Thränenstrom die welken Wangen nieder;

Es wallte Blut und Herz in der getreusten Brust,

Und vor gerechtem Schmerz erstarrten alle Glieder.

Ists möglich? brach der Mund mit hundert Seufzern aus,

Ists möglich? armer Sohn! du stehst im Weysenorden.

O unglückseliges und hochbestürztes Haus!

So bist du abermal zum Trauerhause worden?

Neun Jahre sind es kaum, als meiner Mutter Sarg,

Ach thränenwerthes Wort! vor deiner Thür gestanden;

Als sich mein Angesicht vor Traurigkeit verbarg,

Denn was ich da verlohr, war nirgends mehr vorhanden:[374]

Und itzo, leider! sinkt die andre Stütze hin;

Der theure Vater folgt der Mutter nach dem Grabe.

Wie kömmt es, daß ich nicht sogleich des Todes bin,

Und vor Bekümmerniß noch Geist und Leben habe?

Wie, wenn ein Ungestüm durch dicke Wälder fährt,

Und den gesetzten Stamm der stärksten Eichen fället,

Sich nicht nur Strumpf und Stiel aus seinen Wurzeln kehrt,

Fast jeder Zweig und Ast zersplittert niederfället:

So sollte die Natur, bey treuer Aeltern Grab,

Auch ihrer Kinder Zahl zum kühlen Staube schicken,

Und die, durch deren Kraft sie uns das Leben gab,

Nicht schleuniger, als uns, der Eitelkeit entrücken.

Denn wie des Gipfels Pracht, der seinen Baum geziert,

Nicht länger als der Stamm, in vollem Wachsthum grünet;

Allein so bald der Blitz den festen Stamm gerührt,

Ganz plötzlich nierderstürzt und kaum zu Reisern dienet:

So trägt ein Vater zwar die Seinen hoch empor;

Er nährt, er pfleget sie, er weis sie auch zu schützen:

Allein so bald er stirbt, weis niemand, wie zuvor,

Sein sinkendes Geschlecht mit gleicher Kraft zu stützen.

Ihr merkt es beyde wohl, betrübtes Brüderpaar!

Ihr seyd schon alt genug, das Unglück zu begreifen;

Und weil ihr wohl versteht, was euer Vater war,

So müssen sich bey euch die zärtsten Thränen häufen.

Auch du, o Schwester Herz! bist itzo vaterlos,

Nachdem du schon mit uns der Mutter Grab beweinet;

Dein zärtliches Geschlecht macht deinen Schmerz so groß,

Daß deiner Brüder Gram gedoppelt leichter scheinet.

Wer nimmt hinführo sich wohl deiner Wohlfahrt an?

Wer sorgt für Unterhalt, für Kleidung und Erziehen?

Ach daß ich selber dir damit nicht dienen kann!

Es sollte künftig hin dein Glück beständig blühen.[375]

Wiewohl die theure Frau, so itzt als Witwe weint,

Vertritt mit Rath und That der rechten Mutter Stelle.

Sie hat mit dir und uns es immer wohl gemeynt,

Und lindert uns auch hier die schwersten Trauerfälle.

Verwandte! die Geblüt und Freundschaft uns verbindt,

Erwägt nebst ihr den Schmerz zu früh beraubter Weysen;

Erwägt, wie kummervoll die armen Erben sind,

Die sich mit Thränenbrodt und Aschenkuchen speisen.

Vertretet Vaterstatt, und bessert mit Verstand,

Was ihrer Kindheit fehlt; versorget ihre Jugend:

Der Weg zu Glück und Heil ist ihnen unbekannt,

Drum leitet sie forthin mit kluger Hand zur Tugend.

Wie schmerzlich klaget nicht der höchstbetrübte Mund,

Der unsern Seligen bedaurenden Gemeine!

Sie macht uns den Verlust mit tausend Thränen kund,

Und zeigt, wie zärtlich sie um ihren Hirten weine.

Sie rühmet seinen Fleiß, sie preiset seine Treu,

Womit er jederzeit die Heerde pflag zu weiden:

Sie lobet, wie beherzt sein Muth gewesen sey,

Für seiner Schafe Wohl, als Christi Knecht, zu leiden.

Gott lohne! ruffet sie, Gott lohne dein Gebeth!

Dein Wachen, deine Müh, dein Pflanzen und Begießen!

So lange sich die Welt in ihren Angeln dreht,

Wird dein Gedächtniß auch im Segen bleiben müssen.

Der Heiland, dessen Amt du hier geführet hast,

Vergelte deinen Fleiß vor seinem Angesichte;

Und schmücke nun dein Haupt, nach überstandner Last,

Mit jenem ewigen unwandelbaren Lichte.

So seufzt das treue Volk, das seinen Tod beklagt.

Was kann, was soll ein Sohn zu solchen Wünschen setzen?

Genug, wenn er zum Schluß die kurzen Worte sagt:

Mein Vater! laß mirs zu, dich ewig hoch zu schätzen.[376]

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Band 1: Gedichte und Gedichtübertragungen, Berlin 1968/1970, S. 373-377.
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