III Abschnitt.
Von der Abtheilung der Sprachlehre.

[58] 1 §.


Obgleich alle Sprachen in der Welt eher geredet, als geschrieben worden: so sind sie doch vor der Erfindung der Buchstaben sehr rauh und unförmlich gewesen. Ihre erste ordentliche Gestalt haben sie der Schrift zu danken gehabt; wodurch man in den Stand gesetzet worden, auf alle Wörter viel genauer Acht zu geben. Es ist also kein Wunder, daß die Sprachlehrer ihre Anweisungen zur Erlernung aller Sprachen, von dem Unterrichte anheben, wie man dieselben recht schreiben solle1. Dieser machet billig den ersten Theil derselben aus, und wird griechisch die Orthographie, deutsch die Rechtschreibung, genennet.[58]

2 §. Indessen ist es nicht zu läugnen, daß man die Gründe gewisser orthographischen Regeln nicht eher recht einsehen, und genau beobachten kann, als bis man auch die übrigen Theile der Sprachlehre durchgegangen ist. Gewisse Unterschiede gründen sich schlechterdings auf die Herleitung, Abwandelung und Bildung der Wörter, nach ihren verschiedenen Arten2. Allein, wenn man so lange damit warten wollte, bis ein Anfänger das alles begriffen hätte: so würde man ihn vieler andern Vortheile berauben, die er gleich im Anfange, aus der Lehre von der Rechtschreibung ziehen kann.

3 §. Wenn man die Wörter einer Sprache recht schreiben kann: so ist es natürlich, auf ihren vielfältigen Unterschied, in Ansehung der Bedeutung, und ihrer äußerlichen Bildung oder Gestalt, Acht zu geben. Die erste kömmt auf die Verschiedenheit der Begriffe an, die sich unser Verstand machet: die letztere aber giebt selbst in den Syllben und Buchstaben zu verstehen, daß ein Wort von dem andern herkömmt, oder abstammet3. Diesen Unterschied und diese Verwandtschaft der Wörter, erkläret die Etymologie, oder die Lehre von der Wortforschung, als der zweyte Theil der Sprachkunst.[59]

4 §. Die Wörter können nicht so einzeln hingesetzet werden, wenn man vernehmlich reden, oder schreiben will; sondern sie haben einen Zusammenhang nöthig. Eins muß sich auf das andere beziehen, damit ein Sinn herauskomme, der unsern Gedanken gemäß ist. Diese Verbindung der Wörter nun muß nach gewissen Regeln eingerichtet werden, die der besondern Natur eines jeden gemäß sind; und darnach sie geschickt an einander gefüget werden können. Alle diese Regeln von geschickter Verbindung der Wörter machen den dritten Theil der Sprachlehre aus: und dieser heißt Syntaxis oder die Wortfügung4.

5 §. Da die Aussprache der Wörter entweder so schlechtweg geschehen kann, daß alle Syllben gleich laut, und gleich lang gehöret werden; oder so, daß man sie ungleich erhebt[60] oder fallen läßt: so muß in der Sprachkunst auch davon gehandelt werden, wie man die Syllben im gehörigen Tonmaße sprechen soll. Es entsteht aber aus diesem Tonmaße im Deutschen eben sowohl, als im Griechischen und Lateinischen, ein gewisser Wohlklang. Diesen verursachet eigentlich die verschiedene Abwechselung langer und kurzer Syllben, und überdem, in neuern Sprachen, auch der Reim. Von beyden können theils aus der Natur der Sprache, theils aus der Gewohnheit der besten Poeten, Regeln gegeben werden: und diese machen den vierten Theil der Sprachkunst aus, den man die Prosodie, oder die Tonmessung nennet5.

6 §. In diesen vier Abtheilungen wird nun die ganze Sprachlehre bestehen, und dadurch wird ein Anfänger in den Stand gesetzet werden, mit Gewißheit zu reden und zu schreiben: da er sonst, nach Art der Ungelehrten, auf ein Gerathewohl sprechen muß; ohne zu wissen, ob er recht oder unrecht spricht6. Wie viele, auch so gar unter den Gelehrten, die oft im Lateine und Griechischen sehr scharfe Beobachter der Regeln sind, reden nicht ihre Muttersprache so schlecht, als ob sie Ausländer wären; und begehen Fehler, die sie sich im Lateine nimmermehr vergeben würden7! Vor allen solchen Fehlern wird man sich durch diese Sprachkunst hüten lernen.

Fußnoten

1 Die Schrift ist gleichsam die Abbildung der mit dem Munde ausgesprochenen Töne. Diese verschwinden allemal im Augenblicke, wenn man sie nicht gleichsam durch die Buchstaben sichtbar und dauerhaft machen kann. Der erste Erfinder der Schrift hat also wirklich das gethan, was Lucan ihm beygeleget, wenn er schreibt:


PHŒNICES PRIMI, FAMÆ SI CREDITUR, AUSI,

MANSURAM RUDIBUS VOCEM SIGNARE FIGURIS.


Noch deutlicher drücket es Brebeuf in seiner Übersetzung aus:


C'EST DE LUI, QUE NOUS VTENT CET ART INGENIEUX,

DE PEINDRE LA PAROLE, & DE PARLER AUX YEUX.

Durch ihn kam vor der Zeit die edle Kunst ans Licht;

Wodurch man Wörter malt, und für die Augen spricht.


Da dieses nun von allen orientalischen und occidentalischen Sprachen gilt, so ist die einzige chinesische davon ausgenommen. Denn so wie die alte Bilderschrift der Ägypter, nicht die Worte des Mundes, sondern die Sachen selbst ausgedrücket: so sollen auch die Figuren der Chineser nicht die ausgesprochenen Töne, sondern die Eigenschaften der Dinge selbst, vor Augen stellen; wodurch sie aber unendlich schwerer wird.


2 Z.E. Wenn jemand fragete, ob er, ich nahme, gabe, thate, schriebe, litte, zoge, schuffe; oder einsyllbig, ohne das e am Ende: imgleichen, ob er das Gerüchte, Gedichte, Gemüthe, Gesichte, wie Geschichte, mit einem e schreiben solle? so müßte er die Regeln von den richtigen, und unrichtigen Abwandelungen der Zeitwörter, und von den Geschlechtern der Hauptwörter, gelernet haben. Eben so ist es mit dem vor und für, mit dem denn und dann, wenn und wann, den und denen, der und derer, wieder und wider. Denn ihr Unterschied wird erst im folgenden erkläret werden. Man kann auch gewissen eigensinnigen Kakographien nicht wohl widerstehen, ohne die ganze Sprachkunst aufzubiethen.


3 Bisweilen ist diese Abstammung sehr sichtbar, und fällt jedem in die Augen. Bisweilen sieht sie nur ein in den ältesten deutschen Schriften erfahrener Wortforscher. Z.E. daß in dem Worte Bernstein, der Begriff des Brennens liege, sieht nur der, welcher weis, daß man vormals im Plattdeutschen bernen für brennen gesaget; daher auch die Engländer TO BURN sprechen und schreiben. Noch weniger sehen die meisten, daß in dem Worte die Beichte, das bekennen liege: weil sie nicht wissen, daß es von dem alten jehen sagen, oder bejahen, erst als Bejicht, oder Bejahung entstanden, ehe es als Beichte erschienen.


4 Dieser Theil ist desto nöthiger, da in einem so großen Lande, als Deutschland ist, vielerley Mundarten im Schwange gehen, die öfters auch in der Verbindungsart der Wörter von einander abgehen. Manche Landschaften nämlich weichen sehr von den andern, und fast alle einigermaßen von der besten Mundart, die man das wahre Hochdeutsche nennet, auch in den Wortfügungen ab: nicht, als ob sie ihre eigene Art zu reden für besser, oder nur für eben so gut hielten; sondern weil sie die bessere nur nicht wissen, oder aus Nachläßigkeit nicht zu beobachten pflegen. So fehlen z.E. Ober- und Niederdeutsche, in den Fällen der Fürwörter, bey den Zeitwörtern, sehr häufig; wenn jene z.E. sprechen: ich bin bey Sie gewesen, ich bitte Ihnen, u.d.m. Diese aber pflegen zu sagen: geben Sie mich das; fragen sie mir; sprechen sie vor mir, anstatt, für mich, u.s.w.


5 Viele glauben, dieser Theil der Sprachkunst gehöre in die Dichtkunst: aber diese stehen auch in dem Wahne, die Poesie sey nichts anders, als die Kunst, eine wohlscandirte, oder nach dem Sylbenmaße abgezählte Rede zu machen. Sie irren also in beyden Stücken. Die Dichtkunst ist weit was Edlers, sowohl in der Erfindung, als Ausbildung ihrer Sachen und Gedanken; als daß sie in dem bloßen Spiele langer und kurzer Syllben bestehen sollte: wie ich in meiner kritischen Dichtkunst sattsam gewiesen habe. Der Wohlklang der ungebundenen Schreibart aber, erfordert eben sowohl eine Kenntniß des Tonmaßes der Syllben, als die Poesie; daher muß auch gleich bey der Sprachlehre davon gehandelt werden.


6 Aus dieser Ursache klingt es oft sehr lächerlich, wann gelehrte Männer, entweder alle Arten zu reden im Deutschen für gleichgültig halten, und von keinen grammatischen Fehlern darinnen hören wollen; weil sie glauben, es sey noch ungewiß, welche Art zu reden die rechte sey: oder wann andere, die sich noch ihr Lebenlang um keine Sprachkunst im Deutschen bekümmert haben, viel von der Verbesserung der deutschen Sprache reden. Wie wollen doch solche Leute, die selbst noch gar kein rechtes Deutsch können, und nicht den geringsten Fleiß auf die Kenntniß seiner Regeln gewandt haben, ihre Muttersprache verbessern? Ihre eigene Schreibart zwar möchten sie erst verbessern, oder selbst ein grundrichtiges Deutsch lernen; so wie es heute zu Tage schon von so vielen geschickten Federn geschrieben wird; nicht aber die Sprache bessern wollen, die an sich schon so gut ist, daß man ihr gewiß sehr wenig mehr helfen kann.

Noch eine andere Art von Eiferern für die deutsche Sprache giebt es, die auch über die Vernachläßigung unserer deutschen Alterthümer und überbliebenen Schriften, viele Klagen im Munde führen und sich Wunder einbilden, was von dieser Verabsäumung, dem Flore der heutigen Sprache für ein Schaden erwachse. Auf diese Art redet der sonst gelehrte und patriotische Egenolf, in seiner Historie der deutschen Sprache: sowohl als der ungenannte Herausgeber der II Ausgabe. So sehr ich es selbst wünsche, daß sich mehrere Gelehrte, als bisher, auf diese Archäologie des Deutschen legen mögen: so sehe ich doch 1) nicht, daß mehrere Ausländer sich auf ihre alten Sprachen beflissen hätten, als bey uns mit dem Deutschen geschehen ist. Ja selbst in der angeführten Vorrede findet sichs, daß wir nach den bittersten Klagen über die Saumseligkeit unserer Gelehrten in diesem Stücke, gegen die Engländer, Dänen und Schweden, zehnmal mehr deutsche Sprachforscher, als ausländische, aufzuweisen haben. Und gleichwohl wollte ich dem Hrn. Verfasser dieser Vorrede, aus dem Stegreife, noch ein Dutzend andere Gelehrte nennen, die er übergangen, oder nicht gekannt hat: z.E. den Bona ventura Vulcanius, den Goldast, den Opitz, den Franciscus Junius, den Flacius, den Lambecius, den Palthenius, Peiskern, Frehern, Schiltern, Scherzen, den P. Petz, Hrn. Pelloutier, Hrn. Rector Schöttchen, Hrn. Rector Grabenern, u.a.m. die sich in diesem Felde durch schöne Proben gewiesen haben. Was heißen also diese Klagen?

2) Bilden sich diese Herren fälschlich ein, daß der Flor einer lebendigen Sprache durch dergleichen trockene Erklärungen alter Wörter, und Ausspähung alter Urkunden, sehr befördert werde. Aber falsch. Wir sehen es vielmehr an den Franzosen, daß eine Sprache vortrefflich blühen könne, ohne daß man die Ursprünge derselben sehr untersuchet hat. Denn gewiß die Franzosen kennen die ihrige auf dieser Seite sehr schlecht; können sie auch ohne die Kenntniß der Deutschen, woran es ihnen fast allemal fehlet, nicht kennen; und doch haben sie eine an Zierlichkeit und Anmuth blühende Sprache. Die Engländer hingegen kennen zwar ihre Alterthümer; aber ihre Sprache ist doch sehr roh und ungezieret: wie ihre eigenen Kunstrichter gestehen. Die Erfahrung hat es auch seit 25 Jahren sattsam gelehret, daß unsere Sprache, dem heutigen Gebrauche nach, an Richtigkeit und Schönheit ungemein zugenommen; ohne daß die Alterthumsforscher etwas dazu beygetragen hätten. Gut Latein zu können, darf man eben nicht den Pacuvius und Ennius, vielweniger die Oscischen und Volscischen Überbleibsel auf den Fingern herzählen können: man kann es aus dem Cicero und seinen Zeitverwandten sattsam lernen. Die Menge wohlgeschriebener Bücher, die wir seit oberwähnter Zeit, ja ich möchte sagen, in diesem halben Jahrhunderte bekommen haben, und die sich täglich vermehret, wird unserer Sprache gewiß mehr Glanz geben, als wenn wir uns alle in die Alterthümer vertiefeten: das heutige Deutsch aber, entweder brach liegen ließen, oder doch ohne Grund und Regel so hinschrieben, wie wirs von unsern Ammen und Wärterinnen gelernet haben. Mehrentheils haben unsere Wortforscher und Sprachlehrer selbst gerade das allerschlechteste Deutsch geschrieben; wie Clajus, Goldast, Schottel, Stieler, Bödiker, u.a.m. zur Gnüge gewiesen haben.


7 Über diesen Fehler hat schon Ottfried im IXten Jahrh. geklaget. STUPENT (saget er in der Vorrede zu seinen Evangel.) IN ALIIS (LINGUIS) VEL LITTERULA PARVA ARTEM TRANSGREDI; ET PÆNE PROPRIA LINGUA VITIUM GENERAT PER SINGULA VERBA. RES MIRA! TAM MAGNOS VIROS, PRUDENTIÆ DEDITOS – – – CUNCTA HÆC IN ALIENÆ LINGUÆ GLORIAM TRANSFERRE, et usum Scripturæ in propria lingua non habere. Ist das nicht eine deutliche Satire auf eine Menge heutiger Griechen und Lateiner? die große Humanisten sind, wenn sie Latein schreiben, aber handgreifliche Barbaren werden, so bald sie das geringste deutsch schreiben wollen. Ihre deutschen Briefe, Reden und Predigten läugnen es, daß ihre Urheber jemals den Cicero gelesen, verstanden, und so wie er die Griechen, in ihrer Muttersprache nachzuahmen gelernet haben.[61]


Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 8, Berlin und New York 1968–1987, S. 58-62,65.
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