Vorerinnerung.

1 §.


Eine jede Sprache setzet die bisher erklärten verschiedenen Redetheile, nach einer gewissen Art zusammen: damit dadurch der Sinn des Redenden desto leichter verstanden werde. Die Gewohnheit der ersten Stammväter eines Volkes hat es zuerst eingeführet, wie ihre Nachkommen reden sollten: allein, diese haben durch den Umgang, und die Beobachtung der Bequemlichkeit in den Ausdrückungen, nach und nach viel daran verbessert, oder wenigstens geändert. In einer allgemeinen Sprachlehre könnte man zeigen, welches die natürlichste Ordnung der Gedanken wäre, die in einer philosophischen Sprache beobachtet werden müßte. Hier ist es genug, zu bemerken, daß fast jedes Volk sich einbildet, seine Art, die Wörter zu setzen, sey der Natur der Gedanken die gemäßeste1. Allein, sie irren alle, und bemerken nicht, daß ihnen ihre Art zu denken, zuerst durch ihre Muttersprache beygebracht worden.[457]

2 §. Auch die deutsche Sprache hat eine ihr eigene Art, die Wörter mit einander zu verbinden, oder auf einander folgen zu lassen. Doch hat dieselbe sich seit Ottfrieds Zeiten, das ist seit 900 Jahren; oder gar seit des Ulfila Zeiten, das ist beynahe seit 1400 Jahren, um ein merkliches verändert. Fast jedes Jahrhundert hat gewisse Arten zu reden eingeführet, oder von andern benachbarten Sprachen angenommen: und wir bemerken sogar, daß seit Karls des V Zeiten, schon verschiedene neue Fügungen der Wörter aufgekommen sind. Viele hingegen, die vor 200, ja nur vor 100 Jahren, noch im Schwange giengen, sind veraltet und abgeschaffet worden.

3 §. Nun dringen zwar einige Bewunderer des Alterthums sehr auf die Beybehaltung derselben: wie auch einige Römer, zu Horazens Zeiten2, auf ihres Ennius und Pacuvius altväterisches Latein hielten. Allein, die Menge guter Schriften, die unser Vaterland seit Opitzen hervorgebracht; und womit sonderlich dieses XVIII Jahrhundert fast alle Künste und Wissenschaften bereichert hat, giebt unsern Zeiten ein unstreitiges Vorrecht, die Art ihrer Wortfügungen der altfränkischen vorzuziehen. Hierzu kömmt nun noch der Fleiß so vieler Sprachlehrer, die sich seit zweyen Jahrhunderten bemühet haben, unsere Wortfügung in ein besseres Geschick zu bringen. Will man nun denselben nicht für ganz unnütz erklären, so muß man auch der heutigen Sprache nicht alle ihre Vorzüge absprechen.[458]

4 §. Doch auch die heutige Wortfügung ist nicht in allen Provinzen eines so großen und weitläuftigen Landes, als Deutschland ist, einerley. In seinen obern Theilen, die an der Donau liegen, spricht man anders, als am Rheine herunter. An der Weser ist abermal eine andere Verbindung der Wörter im Schwange, als an der Elbe und Oder. Ja, an dem obern Theile dieser beyden Flüsse redet man schon anders, als nah am Ausflusse derselben. Selbst der Mayn und der Rhein haben verschiedene Mundarten an ihren Ufern, die entweder mehr oder weniger von der alten Sprache beybehalten haben. Hier muß man es nun machen, wie die Wälschen; und zwar der Mundart des größten Hofes in der Mitte des Landes, den Vorzug geben; aber sie doch nach den Regeln derjenigen Stadt verbessern, wo man sich am meisten um die Schönheit der Sprache bekümmert hat3.[459]

5 §. Heißt es also von Italien LA LINGUA TOSCANA IN BOCCA ROMANA, sey die beste Sprache; weil nämlich in Florenz die berühmte ACADEMIA DELLA CRUSCA, als eine Sprachgesellschaft, viel Fleiß auf ihre Muttersprache gewandt, ein treffliches Wörterbuch, und viele andere dahingehörige Sachen und Anmerkungen geschrieben; in Rom aber, als in der größten Residenzstadt, die angenehmste Aussprache herrschet: so werden wir in Deutschland ohne Zweifel der chursächsischen Residenzstadt Dresden4, zumal des Hofes angenehme Mundart, mit den Sprachregeln und kritischen Beobachtungen verbinden müssen, die seit vielen Jahren in Leipzig gemachet, und im Schreiben eingeführet worden; um durch beydes die rechte Wortfügung im Deutschen fest zu setzen5.[460]

6 §. Dieses soll nun meine Richtschnur seyn, indem ich diesen Theil der Sprachlehre abhandeln werde. Das meiste wird freylich mit demjenigen übereinstimmen, was schon von unsern ältern und neuern Sprachlehrern in diesem Falle festgesetzet worden: das übrige aber wird dem Gebrauche der besten Schriftsteller gemäß seyn, die sich seit einem Jahrhunderte hervorgethan, und einen allgemeinen Beyfall erlanget haben. Die Provinzialredensarten aber, nebst denen Wortfügungen, die nur diesem oder jenem Scribenten eigen sind; oder wohl gar nur neuerlich aus fremden Sprachen nachgeäffet worden, wollen wir eben so sorgfältig zu verbiethen, und auszumärzen suchen, als die Lateiner die Solöcismen verbothen, und aus der guten Mundart verbannet haben.

Fußnoten

1 Dieses Vorurtheil seiner Franzosen hat der gelehrte P. Büffier sehr gründlich und herzhaft bestritten. S. seine GRAMMAIRE FRANÇOISE SUR UN NOUVEAU PLAN; imgleichen der kritischen Beyträge VIII B.a.d. 420 u.f.S. Und wie könnte z.E. ein Franzos wohl sagen, das sey die natürlichste Art zu reden, wenn er saget: JE VOUS DIS: ich euch sage. Sollte nicht, nach dem Subjecte ich, erst das Zeitwort sage, und sodann erst, wem ich es sage, folgen? Daber reden wir ja der Natur der Gedanken viel gemäßer, ich sage dir. Eben das gilt von dem, JE VOUS PRIE, ich euch bitte, und JE NE LE SAIS PAS: ich nicht es weis nicht. Auch hier sollte auf ich, als das Subject, das Prädicat weis folgen, sodann das, was man nicht weis; wie wir im Deutschen reden: ich weis es nicht. Eben so ist es in: ME CONNOISSEZ VOUS? mich kennet ihr? VOUS ME CONNOISSEZ, ihr mich kennet; M'ENTENDEZ VOUS; mich verstehet ihr? u.d.gl. So ungegründet sind ihre Pralereyen, von der natürlichsten Art der Gedanken in ihrer Sprache.


2 S. EPIST. L. II. EP. I. AD AUG.

MIRATURQUE NIHIL, NISI QUOD LIBITINA SACRAVIT.

– – ADEO SANCTUM EST VETUS OMNE POEMA!


3 Wollten gleich die Franken sagen: sie hätten die berühmte Pegnitzschäfergesellschaft gehabt, die sich mit dem Deutschen sehr viel zu thun gemachet; und die Niedersachsen sich auf ihren Schwanenorden berufen, welchen Rist gestiftet; oder auf die zesianische deutschgesinnte Genossenschaft, und deren Rosen-Näglichen- und Lilgenzunft stolziren: so werden wir viel zu antworten haben. Denn 1) ist der obersächsische Palmenorden, oder die sogenannte fruchtbringende Gesellschaft, älter, als jene beyde; ja das Muster gewesen, wornach sich jene Franken und Niedersachsen gerichtet haben. 2) Hat dieser Orden viel mehr Ansehen, und wegen seiner hochfürstlichen Vorsteher und Mitglieder, ein weit größeres Gewicht gehabt. Man sehe nur Neumarks deutschen Palmbaum, oder meine Einladungsschrift von diesem Orden, in den Sammlungen der Gesellsch. der fr. Künste nach, und überzähle alle die Könige, Churfürsten, Herzoge, Landgrafen, Fürsten und Reichsgrafen, die dazu getreten; so wird man sich wundern. 3) Hat dieser Orden auch viel mehr Schriften geliefert, und sich durch viel gelehrte Mitglieder, als: Opitzen, den Obersten vom Werder, und viele andere berühmte Federn hervorgethan, denen jene nichts gleiches entgegen setzen können. 4) Haben sowohl die Pegnitzschäfer, als die Zesianer, sich theils durch ihre Spielwerke und Tändeleyen, theils durch orthographische Seltsamkeiten, verächtlich und lächerlich gemachet: welches man von den Gliedern der fruchtbringenden Gesellschaft nicht sagen kann. Folglich bleibt es wohl dabey, daß die Gegenden von Deutschland, zwischen Köthen, Weimar und Halle, als den dreyen Örtern, wo die Oberhäupter des Palmenordens ihren Sitz gehabt, d.i. das eigentliche sogenannte Obersachsen, oder Meißen, die beste Mundart im Deutschen behaupten könne.


4 Man halte nun übrigens von der vormaligen Deutschen Gesellschaft in Leipzig, was man will: so ist doch soviel gewiß, daß sie seit ihrer Erneuerung 1727. (S. die Nachricht davon) durch ihre Schriften, ganz Deutschland aufmerksam gemachet hat. Alle andere deutsche Gesellschaften, die nach der Zeit, fast auf allen hohen Schulen, entstanden, sind gleichsam für Töchter derselben anzusehen; und haben sich destomehr gehoben, jemehr sie auf der guten Bahn geblieben, die jene ihnen gewiesen hatte. Die Beyträge zur kritischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, die einige Glieder derselben, unter meiner Aufsicht ans Licht gestellet; und die ich auch nach meinem Austritte aus derselben 1738, bis auf 8 Bände fortgesetzet, haben die wahren Regeln der Kritik im Deutschen allererst recht bekannt gemachet; ohne in die lächerlichen Ausschweifungen des vorigen Jahrhunderts zu verfallen. Und kurz, die heutige Reinigkeit und Richtigkeit der deutschen Schreibart, die fast durchgehends in denen überall herauskommenden Schriften herrschet, ist bloß durch ihre Bemühungen und Schriften ausgebreitet, ja fast zu einem Gesetze gemachet worden. Und es ist kein Zweifel, daß nicht der große Ruhm ihrer beyden Vorsteher, des Hofr. Johann Burchard Menkens, als eines vernünftigen Dichters, und des Kanzlers von Mosheim, als eines großen Redners, sehr viel zu ihrem Ansehen und Einflusse beygetragen hätte.


5 Ich weis wohl, daß einige andere Residenzen und Universitäten diese Ehre unserm Meißen nicht gönnen wollen, und sich wohl gar einbilden: sie hätten eben soviel Recht und Ansehen in der Sprache. Allein, ich bin kein Meißner von Geburt und Auferziehung, sondern in männlichen Jahren erst hieher gekommen: und also muß wenigstens mein Zeugniß von der Parteylichkeit frey seyn. Man sehe, was in dem Neuesten aus der anmuth. Gel. I B. bey Gelegenheit einer schönen Rede gesaget worden, die Hr. Prof. Michaelis zu Göttingen, DE EA DIALECTO, QUA IN SACRIS UTIMUR, geschrieben hat. Doch billige ich freylich nicht alles, was man in Meißen täglich spricht. Der Pöbel hat überall seine Fehler, so wie er sie in Rom, Paris und London auch hat. Es ist aber gar keine Landschaft in Deutschland, die recht rein hochdeutsch redet: die Uebereinstimmung der Gelehrten aus den besten Landschaften, und die Beobachtungen der Sprachforscher müssen auch in Betrachtung gezogen werden.[461]


Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 8, Berlin und New York 1968–1987, S. 455-462.
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