Das II Hauptstück.
Von der Länge und Kurze, oder dem Zeitmaaße der deutschen Syllben.

[661] 1 §.


Man nennet eine Syllbe lang, wenn der Ton in der Ausspräche, in Vergleichung mit den benachbarten Syllben etwas länger darauf ruhet. Z.E. in den Wörtern Bauer, Herzog, Leben, ewig, König, Trümmer, Vater u.d.gl. sind allemal die ersten Syllben lang: weil der Ton oder Klang in der Aussprache, sich dabey länger verweilet, als bey den folgenden. Hergegen in folgenden Wörtern; beliebt, Verstand, alda, genau, hindan, dabey, Gedicht, allein, alwo, Vernunft, hinzu: sind die letzten Syllben lang; weil sich der Laut der Stimme im Reden dabey am längsten aufhält1.

2 §. Ein jeder sieht also von sich selbst, was durch eine kurze Syllbe zu verstehen sey. Sie ist nämlich eine solche, dabey sich der Laut in der Aussprache, entweder gar nicht aufhält, oder doch in Ansehung der benachbarten, viel weniger verweilet2. Z.E. in Alaun, Geschrey, verderbt,[661] gewiß, z uvor, wodurch, u.d.m. sind die ersten Syllben kurz: in folgenden aber: Colmar, etwas, Eya, Ehe, Namen, nig, dero, Unruh, Nothdurft, u.s.w. sind es die letzten: weil der Ton nicht auf ihnen, sondern auf ihren Nachbarn am längsten gehöret wird.

3 §. Außer diesen unstreitig langen und kurzen Syllben, giebt es auch eine gute Anzahl zweifelhafter, die bald lang, bald kurz ausgesprochen werden können, nachdem es die Verbindung mit andern mit sich bringt; oder auch der Sinn und die Absicht des Redenden es fodert3. Z.E. die Syllbe Rath, ist von dieser Art. Denn ob sie gleich, wenn sie allein steht, billig lang gebrauchet wird: so kann sie doch in der Zusammensetzung bald lang, bald kurz werden. In Rathhaus, nämlich ist das erste: in Hofrath, aber das letzte. Eben so geht es mit dem Worte Haus. Denn wie es in Rathhaus kurz war, so kann es in Hauswirth lang seyn. Und man hat bemerket, daß fast alle einsyllbige Wörter eine so ungewisse Natur haben.

4 §. Ich habe hiermit die erste Quelle aller Quantität, oder des Zeitmaaßes der Syllben, aus der Natur der Aussprache unserer Landsleute hergeholet4: und sehe nicht, daß irgend ein ander Volk dieselbe jemals sonst woher geholet habe, oder habe holen können. So lange eine Sprache lebendig ist,[662] und in einer guten Mundart, aus der Übung erlernet wird, brauchet man auch keine andere Regeln, von der Länge und Kürze der Syllben, als obige drey. Wenn aber eine vormals blühende Sprache, durch Einfälle und Vermischung fremder Völker, ihre Reinigkeit, Schönheit und gute Aussprache verliert: alsdann kann man freylich auf allerley andere Regeln sinnen, wodurch das Zeitmaaß der Syllben genauer bestimmet und festgesetzet werden kann.

5 §. Man hat aber bey den Lateinern angemerket, und wir können es im Deutschen auch gelten lassen:


Die I Regel:


Alle Syllben, die einen Doppellaut in sich haben, sind lang5.


So waren oben die Syllben Bau, in Bauer, Ey, in Eya, , in König, imgleichen die letzten in g enau, dabey, Alaun, Geschrey, u.s.w. unstreitig lang. Es trifft solches auch in den meisten Fällen ein; ob es gleich auch einige Ausnahmen leidet. Z.E. Lauf ist an sich, und in Laufbahn, lang; in Ablauf, Wettlauf, Zeitlauf, aber ist es kurz; weil der Ton auf die ersten Syllben fällt, welche die Bestimmung des Sinnes ausdrücken. Bey, ist in Beystand, und dabey lang; wird aber einzeln auch oft kurz gebrauchet, weil es in die dritte Classe des ungewissen Tonmaaßes gehöret.


[663] Die II Regel:


6 §. Alle Selbstlaute, darauf mehr als ein Mitlauter in derselben Syllbe folget, sind lang.


Bey uns Deutschen gilt diese Richtschnur in den meisten Fällen, sowohl als im Lateine. Denn, die ersten Syllben in fallen, sterben, Sinnen, kommen, morden, Brunnen, u.s.w. sind gleichfalls allemal lang. Wie aber die Lateiner dabey eine Ausnahme, wegen der sogenannten Halblauter: l, m, n, und r, macheten, wenn dieselben mit einem andern Mitlauter zusammen stießen: so hat die deutsche Sprache ihre Abweichung auch. Denn ob sie gleich diese so genannten Halblauter auch in dem Tonmaaße für völlige Mitlauter, oder stumme Buchstaben hält: so giebt es doch Fälle bey uns, da auch Selbstlauter, die zween oder mehr stumme Mitlauter bey sich haben, in der Zusammensetzung mit längern Syllben, kurz lauten; als Mord, in Selbstmord, Stadt, in Hauptstadt, u.d.m.


Die III Regel:


7 §. Viele Syllben und Selbstlaute, werden durch das bloße Gewicht der Aussprache, auch ohne obige Ursachen lang.


Dieses nennet man im Lateine, AUTORITATE (SCIL. der alten Dichter) PRODUCI: und dieses ist der einzige wahre Beweis, von ihrer Länge, in den erloschenen Sprachen; die sich aber zu der Zeit, da sie blüheten, auf die gemeine Aussprache gegründet hat. So sind nun bey uns, in sagen, geben, lesen, loben, Spuren, und unzähligen andern zweysyllbigen Wörtern, die ersten Syllben lang: obgleich weder ein Doppellaut, noch ein zwiefacher Mitlauter nach dem Selbstlaute, diese Länge verursachen. Dieses aber lernet man heute zu Tage am besten aus dem Gehöre. Die Nachkommen werden es, wo ihre Aussprache sich ändert, nur aus den heutigen reinen Dichtern lernen können.


[664] Die IV Regel:


8 §. Überhaupt haben alle Hauptwörter, Beywörter und Zeitwörter im Deutschen wenigstens eine lange Syllbe; sie mögen nun aus so wenigen und gelinden Mitlautern bestehen, als sie wollen.6


Z.E. Von einsyllbigen Bahn, Wahl, Wahn, Zahl, Zahn, Lehn, zehn, wir, dir, Ton, Hut, Flur, Schuh, Spur, Buch, Tuch, Mus, Uhr, Zug. Zweysyllbige: Faden, Gnade, Grafen, Hafen, laben, Laden, Schaden, geben, reden, Boden, holen, Krone, Blumen, rufen, ruhen. Dreysyllbige, als: beehren, erlegen, Gewebe, entladen, erkohren, geloben, verlohren. Viersyllbige, begrabene, belebende, erhabene, vergebene, verschobene, u.s.w. Denn diese sind die rechten Hauptbegriffe unserer Gedanken, darauf in einer Sprache alles ankömmt: und es ist also billig, daß sie mit einem stärkern Tone von den übrigen kleinern Redetheilchen unterschieden werden.

9 §. Indessen kann man auch noch folgendes hinzusetzen:


Die V Regel:


Die kleinen Wörterchen, ab, an, aus, bey, dar, durch, ein, für, hin, her, un, mit, nach, vor, weg, will und zu, werden in der Zusammensetzung mit Haupt- und Zeitwörtern allemal lang ausgesprochen.


Z.E. Ablegen, anbringen, austilgen, beytragen, darbiethen, Durchgang, Einnahme, Fürbitte, hinreisen, Misgunst,[665] mitgehen, nachtreten, vorgehen, wegwerfen, willfahren, zusprechen. Ja, sie bleiben auch lang, wenn sie in der gegenwärtigen, oder fast vergangenen Zeit, von dem Zeitworte getrennet werden; ich nehme ab, ich trug es ihm an, u.d.gl. Eben das versteht sich, wenn die Syllben ge, oder zu zwischen beyde eingeschaltet werden: als ausgetilget, beyzutragen, u.s.w. Es würde also eine üble Aussprache, und im poetischen Syllbenmaaße ein schlechtes Gehör anzeigen, wenn man diese Syllben kurz brauchen wollte: gesetzt, daß die gleich darauf folgenden auch noch lang blieben.


Die VI Regel:


10 §. Wenn die Wörterchen ab, an, auf, aus, bey, ein, für, her, hin, mit, nach, von, vor, um, weg, weil und zu, in der Zusammensetzung ans Ende kommen: so haben sie auch den langen Ton.

Z.E. Hinab, daran, herauf, daraus, anbey, hinein, dafür, daher, dahin, damit, demnach, hievon, bevor, darum, hinweg, dieweil, hinzu. Man sieht also deutlich, daß die Länge dieser Syllben in der ganzen Sprache ausgemachet ist, sie mögen forne oder hinten in den Wörtern zu stehen kommen. Es hindert auch hier nicht, daß einige davon, wenn sie einzeln stehen, zu der Classe der unbestimmten gehören. Denn diese beyden Regeln reden nur von ihnen, wenn sie in Verbindung stehen.

11 §. Eben so können wir von den kurzen Syllben einige wenige Regeln geben.


Die VII Regel:


Wenn ein Selbstlaut vor dem andern steht, so ist er kurz.


Hieher gehören doch fast lauter fremde Wörter: weil die deutsche Sprache den Zusammenlauf der Selbstlaute nicht[666] leiden kann. Z.E. Abigail, Phä acien, Gideon, Diana, Gloria, Historie, Centurie, Komödie, Tragödie, Ceremonie, Evangelium, Kyrie, Hosianna, Josua, u.d.m. Das Wort Lilien würde eben so lauten, wenn man es nicht, um den gar zu weichen Klang zu vermeiden, lieber zweysyllbig spräche, Liljen, oder Lilgen. Zion aber und Pavia werden ausgenommen.


Die VIII Regel:


12 §. Die Endsyllben e, el, em, en, eln, ern, er, est und et sind in vielsyllbigen Wörtern allemal kurz.


Z.E. Die Liebe, Seele etc. Mangel, meinem etc. sie geben, es mangeln, es ärgern, Vater, Mutter, ihr saget, sprechet etc. du thatest, du bittest u.s.w. haben allemal eine kurze Endsyllbe. Man nehme nur Asbest, Nest, West und Fest aus, welches in der Zusammensetzung zuweilen lang wird; als in Osterfest, Weihnachtsfest; ob es gleich in der That nur gleichgültig bleibt. Denn in Bußfest, Dankfest, Pfingstfest, kann es sowohl kurz, als zu Spondäen lang klingen.


Die IX Regel:


13 §. Die Anfangssyllben, be, ent, empf, er, ge, um, ver, und zer werden allemal kurz gebrauchet, es mag nun ein Selbstlauter oder Mitlauter folgen.


Z.E. beerben, bewegen, entstehen, em pfangen, erachten, ergen, gelingen, g eärgert, umgeben, umarmen, verdrossen, verachtet, zertheilen, zerschneiden, u.s.f.


Die X Regel:


14 §. Der Doppellaut au, wenn er am Ende eines Namens steht, wird kurz.


Z.E. Torgau, Pegau, Brisgau, Sundgau, Lindenau, Hennegau, u.d.gl. Man muß auch nicht denken, daß er[667] in den dreysyllbigen etwa lang würde: weil man in Versen ihn bisweilen lang brauchet. Er ist nichts mehr, als gleichgültig zu nennen, und kann, wie andere Endsyllben langer Wörter, auf beyderley Art gebrauchet werden.


Die XI Regel:


15 §. Einsyllbige Hauptwörter, denen man ein anderes dieser Art, in der Zusammensetzung vorsetzet, können für kurz gehalten werden.


Denn weil in der Zusammensetzung zweyer Hauptwörter, allemal das erste den Ton bekömmt: so folget, daß das andere, dagegen zu rechnen, kurz werden muß, so lang es auch sonst seyn möchte. Z.E. Schuh ist an sich lang; wenn ich aber sage, ein Handschuh, so wird es kurz. Schlag ist ebenfalls lang; aber in Handschlag, entzieht ihm das erste Wort den Ton, so daß es kurz wird7. In Donnerschlag aber, und in allen, wo ein zweysyllbiges dieser Art vorgesetzet wird, wird es unbestimmt, und kann auf beyderley Art gebrauchet werden.


16 §. Wegen der unbestimmten Syllben ist folgendes zu merken.


Die XII Regel:


Außer den oben erwähnten, werden alle andere kleine einsyllbige Wörterchen bald kurz, bald lang gebrauchet.


Z.E. Ja kann lang und kurz seyn; denn wenn man saget: Ja, ja; Nein, nein; so fällt der Ton aufs letzte. Mit so so, ist es eben so. Das es ändert sich auch nach seiner Nachbarschaft. Denn man saget so wohl:


Es ver | geht mir | alle | Lust etc. als so,

Sollt es | gleich bis|weilen | scheinen etc.[668]


Und so geht es mit in, auf, von, mit, bey, zu, durch, bald, und allen andern, die zu dieser Art gehören. Nur muß man die Nebenwörter davon ausnehmen, die von Beywörtern entstanden sind; als: groß, schön, lang, kurz, tief, hoch, stark, schwach u.d.gl. diese bleiben immer lang.


Die XIII Regel:


17 §. Die Endsyllben bar, haft, heit, keit, lein, lich, inn, niß, sal, sam, schaft, thum, und ung, sind von ungewisser Länge.


Stehen sie nämlich in einem zweysyllbigen Worte, nach einer langen Syllbe, so sind sie kurz; als achtbar, wehrhaft, Gutheit, Frommkeit (ein altes Wort) tröstlich, Mährlein, Kenntniß, Irrsal, rathsam, Freundschaft, Irrthum, und Handlung. Stehen sie aber in einem vielsyllbigen Worte, nach einer kurzen Syllbe, so können sie lang werden. Z.E. Wunderbar, Tugendhaft, Sicherheit, Ehrbarkeit, Fingerlein, Wunderlich, Finsterniß, niginn, arbeitsam, Wanderschaft, rstenthum und Besserung. Ich sage, sie können lang werden; denn in daktylischen Versen können sie auch hier kurz bleiben.


Die XIV Regel:


18 §. Alle Geschlechtswörter vor den Nennwörtern, und alle Fürwörter vor den Zeitwörtern sind von ungewisser Länge.


Fängt nämlich das Haupt- oder Zeitwort mit einer langen Syllbe an: so sind die vorherstehenden Wörterchen kurz, als: der Mann, die Frau, das Kind, die Menschen. Ich liebe, du liebest, er liebet u.s.w.8. Folgen aber unmittelbar darauf kürzere Syllben, so werden jene lang ausgesprochen: z.E. der Gerechte, die Geliebte, das er wünschte, [669] die Verfluchten. Ich e rbarme, du bemühest, er genießt, wir verderben, ihr gewinnet, sie begehren9.

19 §. Dieses sind nun die nöthigsten Regeln, die man in Bestimmung des deutschen Tonmaaßes beobachten kann, und muß, wenn man die Wörter recht aussprechen will10. Denn das ist zu merken, daß die selben nicht nur in der Poesie, sondern auch in der ungebundenen Rede, und täglichen Aussprache beobachtet werden. Es würde ja eine seltsame Sprache seyn, und sehr widerlich klingen, wenn man alle Syllben gleich lang dehnen, oder sie dem andern gleichsam zuzählen wollte. Das Gehör zeiget es auch einem jeden, daß manche Syllben länger, manche kürzer gesprochen werden: und es ist zu verwundern, wie die Franzosen von ihrer Sprache das Gegentheil glauben können11.[670]

20 §. Man glaubet es nämlich nicht, was in einer jeden Sprache auf den rechten Ton einer Syllbe ankömmt; daß man ein Wort so, oder anders, oder gar nicht versteht. Z.E. das Wort Gebet, kann zweyerley heißen, nachdem ich die erste, oder letzte Syllbe in der Aussprache lang mache. Spreche ich Gebet, so heißt es DATE, und ist aus der gebiethenden Art des Zeitwortes geben. Sage ich aber Gebet, oder besser Gebeth, so kömmt es von bethen PRECARI, Eben so ist es mit erblich. Sage ich erblich, so kömmt es von erben, und heißt HÆREDITARIUS: sage ich aber erblich, so kömmt es von erbleichen, und ist die dritte Person der jüngstvergangenen Zeit, u.a.m.

21 §. Um aber die Kürze oder Länge der Syllben durch geschickte Zeichen anzudeuten, haben die Sprachlehrer ein krumm aufgebogenes U und ein gerades Strichlein – angenommen12. Diese setzen sie über die Syllben, oder anstatt derselben, um ihr Zeitmaaß anzuzeigen. Wollte ich also die Prosodie des Wortes unverweslich und enterbeter anzeigen; so würde ich es so machen:


– U – U U – U U

Un ver wes lich, Ent er be ter.


Nun urtheile man einmal, wie diese Wörter klingen würden, wenn man sie so aussprechen wollte:


U – U – – U – U

Un ver wes lich, oder Ent er be ter.


Denn wer würde eine so kauderwälsche Aussprache verstehen können?

Fußnoten

1 Die lateinischen Prosodisten sagen daher, eine kurze Syllbe habe nur eine einfache Dauer; eine lange hergegen eine doppelte. Dieses ist sehr gut, zu erklären, woher man hernach in gewissen Füßen zwo kurze Syllben, auf eine lange rechnet: weil sie nämlich in der Aussprache einerley Zeit brauchen. Dieses müssen sich diejenigen Landschaften merken, deren Mundart es mit sich bringet, alle Syllben gleich geschwind, oder gleich langsam auszusprechen. Dieses ist falsch: und bey einer solchen unharmonischen Art zu reden, kann man den Wohlklang der Poesie niemals empfinden.


2 Dieses ist nicht nöthig zu bemerken; denn alle Größen haben ihren Namen in Ansehung einer andern: und Gulliver, der in Liliput groß hieß, war in Brobdignac sehr klein. So kann denn manchmal eine Syllbe, die in einer gewissen Nachbarschaft lang gewesen seyn würde, in einer andern kurz heißen. Z.E. All, ist in alles lang; in allein aber kurz. Je, ist in jeder, lang; in jedoch aber wird es kurz. Ey, ist in Eydam lang, in Polley kurz.


3 Die Lateiner sagen: daß eine solche Syllbe anderthalb Zeiten daure; und also bald einer langen, bald einer kurzen gleich ausgesprochen werden könne. Und solche zusammengesetzte Wörter kann man denn auch in deutschen Hexametern als Spondäen brauchen.


4 Daher hat auch Klajus sie geleitet, wie aus seinen oben angeführten Worten erhellet: ob er sich gleich auch bemühet, verschiedene andere Regeln davon zu geben. Eben so haben es TRISSINO u. MINTURNO bey den Wälschen, im oben angezogenen Orte gemachet.


5 Ausgenommen wenn in vielsyllbigen Wörtern das au, ans Ende kömmt. Als in Wetterau, Lindenau, Olbernau. Eben so ist es auch mit dem ey, in einerley, vielerley, u.d.gl. Indessen werden doch diese Endsyllben nur gleichgültig, so daß man sie lang und kurz brauchen kann.


6 Wie also diejenigen, zumal von neuern epischen Dichtern, die sich mit Hexametern gewaget, sehr fehlen, wenn sie dergleichen hauptsächliche Stammsyllben der Wörter, wider die ganze Art unserer Aussprache, kurz gebrauchet: also wollen wir damit nicht sagen, daß alle Partikeln, das ist Fürwörter, Nebenwörter, Vorwörter und Zwischenwörter, kurz seyn müßten. Nein, auch unter diesen giebt es viele, die theils wegen ihrer Doppellaute, theils wegen vieler Mitlauter, theils sonst wegen der Aussprache, einen langen Ton haben.


7 Doch kann es in Versen, wo man Spondäen brauchet, allemal mit Rechte lang gebrauchet werden.


8 Doch merke man von diesen Wörtern, daß sie als bloße Artikel lieber kurz, als Fürwörter aber lang lauten: z.E. Opitz: Das wolle der ja nicht, etc. hier ist der ein Fürwort. Aber wenn man saget:


Bis der Gott der güldnen Gluten,

Der die braunen Mohren brennt.


so ist das der die beyden ersten male ein Artikel, oder Geschlechtswort, und folglich kurz. Das dritte aber, heißt QUI, und ist also ein beziehendes Fürwort, und folglich lang.


9 In jambischen und trochäischen Versen brauchet man sie in diesen Fällen auch lang. Aber in daktylischen könnten sie auch kurz gesetzet werden, z.E.


– U U – U U –

Denn ich er|barme mich | dein.


10 Wenn unsere neuen epischen Dichter selbige in ihren Hexametern besser in Acht genommen hätten: so würden ihre Gedichte nicht so rauh und widerlich klingen. S. mein II Gutachten von den biblischen Epopöen, im Lenzmonde des II B. vom Neuesten.


11 S. Rollins MANIERE D'APPRENDRE ET D'ENSEIGNER LES BELLES LETTRES T.I. P. 328; das I Cap. meiner kritischen Dichtkunst im 14 §. endlich auch des Büchersaals der sch. Wissensch. und fr. Künste II B.a.d. 339 u.f.S.


12 Scaliger (DE CAUSS. L. LAT. II. C. 55) vermuthet, daß man anfänglich zu einer kurzen Syllbe auch ein gerades, oder nur halb so langes Strichlein gemachet. Als er aber bisweilen von dem langen schwer zu unterscheiden gewesen, und ein Circumflex oder Hütchen Λ auch eine lange Syllbe bedeutet hat: so habe man dieses Zeichen umgekehret, die Kürze anzuzeigen, und daraus sey dieses krumme Strichlein U entstanden. Wer mehr Regeln von der Kürze und Länge der Syllben haben will, nehme meine Vorübungen der deutschen und lateinischen Dichtkunst zur Hand; wo ich ausführlicher davon habe handeln müssen.[671]


Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 8, Berlin und New York 1968–1987, S. 661-673.
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