Das XII. Capitel.
Von Opern oder Singspielen.

[360] 1. §.


Ich hätte mit dem vorigen Hauptstücke meine ganze Dichtkunst beschließen können; wenn nicht die neuern Zeiten eine besondere Art der Schauspiele erdacht hätten, die man eine Opera nennet. Ihr erster Erfinder, soll, nach einiger Meynung, ein italienischer Musikus, Cesti, am savoyischen Hofe gewesen seyn; der des Guarini treuen Schäfer in die Musik gesetzt, und wo nicht ganz, doch zum wenigsten größtenteils singend aufgeführet. Allein ich habe bey weiterer Untersuchung dieser Sache befunden, daß diese Erfindung noch etwas älter seyn muß. Dryden, ein englischer Poet, der selbst etliche Opern gemacht hat, hält dafür, die Italiener müßten den ersten Anlaß zur Erfindung der Opern, in den barbarischen Zeiten, als die Mauren noch in Spanien waren, bekommen haben. Denn diese pflegten solche Feste mit Singen und Tanzen und andern Lustbarkeiten zu feyren. So verkleinerlich diese Meynung den Opern ist, so übel gefällt sie dem Verfasser eines englischen Buches, THE TASTE OF THE TOWN, OR A GUIDE TO ALL PUBLICK DI VERSIONS, der uns in der ersten Abtheilung seines Werkes auch von der Oper in London einen Begriff beybringen will. Er will uns nämlich bereden, die Oper habe aus dem Chore der alten griechischen und römischen Trauerspiele ihren Ursprung genommen. Denn so wie man darinn eine große Anzahl Sänger auf die Schaubühne stellte, die zwischen den Aufzügen der Tragödien gewisse Oden singen mußten, die sich zu dem vorhergehenden schickten: also wäre dieses die Veranlassung[361] gewesen, ganze Stücke absingen zu lassen. Ja, dieser Scribent geht gar so weit, daß er uns bereden will, die Odea der Athenienser und Römer, darinn sich die Musikanten zu üben pflegten, wenn ein neues Schauspiel aufgeführt werden sollte, wären nicht viel was anders, als Opernbühnen gewesen, und also hätten schon Griechen und Lateiner Opern gehabt.

2. §. Allein diese Gedanken gehen wohl etwas zu weit, und der Verfolg wird lehren, daß diese Erfindung allerdings weit neuer sey. Niemand hat diese Untersuchung mit größerm Fleiße angestellet, als der berühmte Muratori, in der gelehrten Einleitung zu dem von ihm zu Verona ans licht gestellten THEATRO ITALIANO, welches eine Sammlung von 12. italienischen Trauerspielen in sich hält. Ich will also aus ihm das Vornehmste hier anführen, welches ohne Zweifel einem jeden ein Gnüge thun wird. Schon vor der Wiederherstellung der freyen Künste in Italien, hat man eine Art von Comödien gehabt, die in den Kirchen gespielet worden. Er beruft sich auf den LUDUM PASCHALEM, den P. Petz im II. TOM. seiner gesammleten Schriften bekannt gemacht, und der vermuthlich aus dem zwölften Jahrhunderte seyn soll. Eben so ist der verkaufte Joseph zu BADIA DI CORBEIA 1264. gespielt worden, dessen Leibnitz im II. TOM. der SCRIPTORUM BRUNSUICENSIUM gedenket. Diese geistlichen Stücke, die von den Pfaffen damaliger Zeiten sind gemacht gewesen, haben nun, wie leicht zu erachten ist, sehr elend ausgesehen; so, daß sie fast für nichts zu halten sind. Die ersten also, die in Italien Schauspiele geschrieben, sind Mussato von Padua, der in lateinischer Sprache, und Trißino von Vicenza, der im Welschen dieses versuchet hat. In einem sehr raren Buche, so auf einer gewissen Bibliothek in Verona befindlich ist, und welches wenigstens aus dem 1200. Jahre kömmt, ist noch ein gewisses Gespräche vorhanden, das wie eine Comödie aussieht: da aber immer am Rande steht: Nun redet Pamphilus mit der alten Frau. Die alte Frau antwortete. Spricht Galathea etc.[362] Mussato berichtet auch in der Vorrede des IX. Buchs DE GESTIS ITALORUM, daß man auf den Schaubühnen die Thaten der Könige und Fürsten (CANTILENARUM MODULATIONE) in Liedern vorgetragen habe.

3. §. Wie nun daraus erhellet, daß man schon im 1300. Jahre sich der Schaubühne bedienet habe: also hat man auch in Florenz 1304. eine solche Vorstellung gehabt. Im 1400. Jahre fieng die griechische und lateinische Sprache sehr an in Welschland zu blühen, und der gute Geschmack hub in allen Künsten an wieder aufzuwachen: daher denn auch die Schaubühne in Flor kam. Angelo Decembrio denket eines Ugolins, aus Parma, der Comödien gespielt hat: doch die Sophonisbe des Trißino ist die erste regelmäßige Tragödie gewesen, die man dazumal vorgestellet hat. Pabst Leo X. hat sie mit großer Pracht aufführen lassen, und daher ist bey vielen andern eine Eifersucht entstanden, eben dergleichen zu verfertigen. Dieses dauerte nun bis zum Ende des 15ten Jahrhunderts: allein an statt, daß sich die welsche Schaubühne hätte verbessern sollen, so nahm sie mehr und mehr ab, weil sich ein jeder mit einer neuen Schreibart und mit neuen Erfindungen hervorzuthun bemüht war. Damals ist nun auch die Gewohnheit aufgekommen, theatralische Stücke musikalisch aufzuführen. Sulpizio, der den Vitruvius mit Noten herausgegeben, rühmt sich zwar, daß er in Rom 1480. zuerst gewiesen habe, wie man eine Tragödie singen solle. Ob dieses aber von einem eigentlichen Gesänge, oder nur von einer natürlichen guten Aussprache zu verstehen sey, das ist schwer auszumachen, wie Crescimbeni sehr wohl angemerket hat. Und Tristano Calchi erzählt in seiner Historie, daß man dem Herzoge zu Mayland Galeazzo, zu Tortona eine theatralische Vorstellung in Musik aufgeführet habe. Allein so viel ist gewiß, daß man im sechzehnten Jahrhunderte die Chöre der Tragödien recht musikalisch abgesungen habe; doch so, daß die rechten Unterredungen der spielenden Personen nur gesprochen worden. Endlich ist im Jahr 1597. von einem Modeneser, ORAZIO VECCHI, auf eine bis dahin[363] unerhörte Art alles, was die Comödianten zu reden haben, musikalisch aufgeführet worden: so daß weder Pantalon, noch der Doctor, noch der spanische Capitain, noch die lustige Person davon ausgenommen worden.

4. §. Dieses Stücke nun ist eigentlich für die erste Oper zu halten, und ist noch itzo, unter die Noten gesetzt, in dem Vorrathe der ACADEMIA FILARMONICA zu finden. In der Vorrede desselben bedienet sich der Verfasser der folgenden Worte: NON ESSENDO QUESTO ACCOPIAMENTO DI COMEDIE & DI MUSICA PIÙ STATO FATTO, CH'IO MI SAPPIA DA ALTRI, E FORSE NON IMMAGINATO, SARÀ FACILE AGGIUNGERE MOLTE COSE PER DARGLI PERFEZZIONE; ED IO DEVRÒ ESSERE, SE NON LODATO, ALMENO NON BIASIMATO DELL INVENZIONE. Darauf sind nun viele andre diesem Exempel haufenweise gefolget, darunter aber OTTAVIO RINUCCINI, ein Florentiner, mit seiner Euridice der erste gewesen; worauf noch die Daphne und Ariane von demselben Poeten gefolget. Im Anfange ist das Singen dieser Opern noch nicht sehr von der ordentlichen Aussprache abgegangen, und es hat weder die Handlungen noch die Worte unterbrochen; so daß man noch die ganze Schönheit der Ausdrückungen und Gedanken einsehen können, und die Poesie dabey nichts verlohren. Allein allmählich hat man die Oper mehr und mehr verwandelt, und dadurch nach und nach beyde Künste; Musik und Poesie, aufs seltsamste verderbet. So weit geht nun die Erzählung, aus der Abhandlung des Herrn Muratori; und wie dieselbe mit aller möglichen Wahrscheinlichkeit versehen ist: also sehe ich nicht, was man weiter dabey verlangen kann, als wie diese Kunst, Opern zu machen, aus Welschland in die übrigen europäischen Länder ausgebreitet worden. Wer dieses von den Franzosen wissen will, der darf nur St. Evremonds Comödie, LES OPERA genannt, nachschlagen, die auch in meiner deutschen Schaubühne wiewohl auf das Hamburgische Theater gedeutet, anzutreffen ist. Von uns Deutschen mag ein Liebhaber dieser singenden Schauspiele sich selbst die Mühe nehmen zu untersuchen, wer die[364] erste Oper in Deutschland gemacht hat. Zu meiner Absicht darf ich solches nicht wissen, und schreite also zu meiner Beschreibung derselben fort.

5. §. Die Verse der Opern werden nach Art der Cantaten gemacht, und bestehen also aus Recitativen und Arien. Der Musikus componirt dieselben nach seiner Phantasie; die Sänger lernen Text und Musik auswendig; die Schaubühne wird prächtig ausgezieret; und die ganze Vorstellung mit vielen Veränderungen und Maschinen abgewechselt. Der Vorhang öffnet sich mit einem Concerte der allerschönsten Instrumenten, die von den größten Virtuosen gespielet werden; und das ganze Singspiel wird mit einer beständigen Begleitung einiger schwächern Instrumenten erfüllet. Diese ganze Kunst ist indessen in Franckreich noch unvollkommen gewesen, bis der berühmte Lulli die Musik auf einen ganz andern Fuß gesetzet hat. Dieser bemächtigte sich ihrer Opernbühne ganz und gar, und richtete alles nach seinem Kopfe ein. Die Poeten mußten nach seiner Pfeife tanzen, und solche Stücke ersinnen, darinnen fein viel buntes und seltsames aufgeführet werden konnte. Die Schaubühne mußte sich zum wenigsten in jeder Handlung ändern, bald einen güldenen Pallast, bald eine wilde See, bald Felsen und wüste Klippen, bald einen Garten, bald sonst eine bezauberte Gegend vorstellen. Es mußten viel Götter in allerhand Maschinen erscheinen: und sonderlich mußten die Arien dem Musikmeister viel Gelegenheit geben, seine Künste anzubringen. Dabey hub man alle Regeln der guten Trauer- und Lustspiele gänzlich auf. Es wurde nicht mehr auf die Erregung des Schreckens und Mitleidens, auch nicht auf die Verlachung menschlicher Thorheiten gesehen: sondern die phantastische Romanliebe behielte allein Platz. Die Einigkeit der Zeit und des Ortes wurde aus den Augen gesetzet; die Schreibart wurde hochtrabend und ausschweifend; die Charactere waren theils übel formiret, theils immer einerley, nämlich lauter untreue Seelen, seufzende Buhler, unerbittliche Schönen, verzweifelnde Liebhaber u.d.gl. Mit einem Worte, die Opera wurde ein[365] ganz nagelneues Stück in der Poesie, davon sich bey den Alten wohl niemand hätte träumen lassen.

6. §. Ich habe bisher nur eine kurze Erzählung von der Oper gemacht; und meine Gedanken davon noch nicht gesagt. Allein aus dem obigen wird man leicht schließen können, was ich davon halte. Wenn nicht die Regeln der ganzen Poesie übern Haufen fallen sollen, so muß ich sagen: Die Oper sey das ungereimteste Werk, das der menschliche Verstand jemals erfunden hat. Ein jeder kann aus der Beschreibung eines Gedichtes überhaupt den Beweis machen. Ein Gedichte oder eine Fabel muß eine Nachahmung einer menschlichen Handlung seyn, dadurch eine gewisse moralische Lehre bestätiget wird. Eine Nachahmung aber, die der Natur nicht ähnlich ist, taugt nichts: denn ihr ganzer Werth entsteht von der Aehnlichkeit. Aus dieser aber sind alle die Regeln geflossen, die wir oben von der Schaubühne, sowohl für die Tragödie, als Comödie, gegeben haben. Diese Regeln sind aus der Natur selbst genommen, durch den Beyfall der größten Meister und Kenner von Schauspielen bestärket, und bey den gescheidtesten Völkern gut geheißen worden. Was also davon abweichet, das ist unmöglich recht, und wohl nachgeahmet. Wer sieht aber nicht, daß die Oper alle Fehler der oben beschriebenen Schauspiele zu ihren größten Schönheiten angenommen hat; und daß sie ganz und gar wegfallen, oder doch ihre vornehmste Anmuth verlieren würde, wenn man sie davon befreyen wollte?

7. §. Einmal ist es gewiß, daß die Handlungen und dazu gehörigen Fabeln, mit den alten Ritterbüchern und Romanen mehr Aehnlichkeit haben; als mit der Natur, so, wie wir sie vor Augen haben. Wir müssen uns einbilden, wir wären in einer andern Welt, wenn wir eine Oper in ihrem Zusammenhange ansehen: so gar unnatürlich ist alles. Die Leute denken, reden und handeln ganz anders, als man im gemeinen Leben thut: und man würde für närrisch angesehen werden, wenn man im geringsten Stücke so lebte, als es uns die Opern vorstellen. Sie sehen daher einer Zauberey viel ähnlicher, als der[366] Wahrheit; welche Ordnung und einen zulänglichen Grund in allen Stücken erfordert. Wo sieht man im gemeinen Leben Leute, die sich einander als Götter anbethen; Liebhaber, die auf den Knieen vor ihren Gebietherinnen liegen, und sich das Leben nehmen wollen; Prinzen, die in Gestalt der Sklaven in weitentlegene Länder ziehen, weil sie sich in den bloßen Ruff von einer Schönheit verliebet haben; Könige, die ihre Kronen, um eines schönen Weibes halber, verlassen, und was dergleichen Phantasien mehr sind? Wo hört man die gewöhnliche Opersprache, von Sternen und Sonnen, von Felsenbrüsten und ätnagleichen Herzen, von verfluchten Geburtsstunden, um eines scheelen Blickes wegen, und von grausamen Donnerkeilen des unerbittlichen Verhängnisses, welches eine verliebte Seele nur zu lauter Marter erkohren hat? Alle diese Dinge sind uns so fremde, daß wir sie in keiner Reisebeschreibung von Liliput für erträglich halten würden: und gleichwohl sollen sie in der Oper schön seyn. Ich schweige noch der seltsamen Vereinbarung der Musik, mit allen Worten der Redenden. Sie sprechen nicht mehr, wie es die Natur ihrer Kehle, die Gewohnheit des Landes, die Art der Gemüthsbewegungen und der Sachen, davon gehandelt wird, erfordert: sondern sie dehnen, erheben, und vertiefen ihre Töne nach den Phantasien eines andern. Sie lachen und weinen, husten und schnupfen nach Noten. Sie schelten und klagen nach dem Tacte; und wenn sie sich aus Verzweifelung das Leben nehmen, so verschieben sie ihre heldenmäßige That so lange, bis sie ihre Triller ausgeschlagen haben. Wo ist doch das Vorbild dieser Nachahmungen? Wo ist die Natur, mit der diese Fabeln eine Aehnlichkeit haben?

8. §. Ich weis es wohl, daß es hier und da große Liebhaber und Bewunderer der Opern giebt, die sie für das Meisterstück der menschlichen Erfindungskraft; für einen Zusammenfluß aller poetischen und musikalischen Schönheiten; für einen Sammelplatz aller ersinnlichen Ergetzlichkeiten ansehen. Allein ich weis auch, daß alle diese Leute, die im übrigen gar vernünftige[367] und rechtschaffene Männer seyn können, die wahren theatralischen Regeln sich niemals bekannt gemacht; oder dieselben noch nicht aus ihren Gründen hergeleitet gesehen. Sie halten derowegen in Sachen, die auf die Lust ankommen, alles für willkührlich, und meynen, man müsse es damit nicht so genau nehmen. Was nur den Augen und Ohren gefiele, das wäre schon gut: und man müßte die Vernunft hier schweigen heißen, wenn sie uns dieses Vergnügens durch ihre critische Anmerkungen berauben wollte. Alle diese Vorstellungen aber heben meine obige Gründe nicht auf, und ich kann mich nicht entschließen, die Oper für was natürliches, für eine geschickte Nachahmung menschlicher Handlungen, oder überhaupt für was schönes zu erklären. Die Musik an sich selbst ist zwar eine edle Gabe des Himmels: ich gebe es auch zu, daß die Componisten viel Kunst in ihren Opern anzubringen pflegen; wiewohl sie auch oft übel angebracht wird. Aber was die Poeten daran thun, und überhaupt die ganze Verbindung so verschiedener Sachen taugt gar nichts. Ich sehe überdas die Opera so an, wie sie ist; nämlich als eine Beförderung der Wollust, und Verderberinn guter Sitten. Die zärtlichsten Töne, die geilesten Poesien, und die unzüchtigsten Bewegungen der Opernhelden und ihrer verliebten Göttinnen bezaubern die unvorsichtigen Gemüther, und flößen ihnen ein Gift ein, welches ohnedem von sich selbst schon Reizungen genug hat. Denn wie wenige giebt es doch, die allen solchen Versuchungen, die sie auf einmal bestürmen, zugleich widerstehen können? So wird die Weichlichkeit von Jugend auf in die Gemüther der Leute gepflanzet, und wir werden den weibischen Italienern ähnlich, ehe wir es inne geworden, daß wir männliche Deutsche seyn sollten.

9. §. Es ist ohnedieß das Vorurtheil bey uns eingerissen, daß so gar die italienische Sprache in dem Halse eines Castraten viel besser klingt, als die deutsche. Daher machen die meisten Opern auch einen Mischmasch in der Mundart. Die Arien sind oft welsch, und die Recitative bleiben deutsch.[368] Eine und dieselbe Person singet zuweilen bald deutsch, bald italienisch; und ihre Zuschauer lassen sichs weis machen, das klinge überaus schön, was sie doch nicht verstehen. Das ist aber nichts neues. Auch den deutschen Text versteht man, vor so vielen Trillern und künstlichen Veränderungen der Töne, in einer mäßigen Entfernung von der Schaubühne, schon nicht mehr; wo man nicht ein Buch hat, und sich durch das Lesen einhilft. So ist denn die Oper ein bloßes Sinnenwerk: der Verstand und das Herz bekommen nichts davon. Nur die Augen werden geblendet; nur das Gehör wird gekützelt und betäubet: die Vernunft aber muß man zu Hause lassen, wenn man in die Oper geht, damit sie nicht etwa durch ein gar zu kützliches Urtheil, die ganze Lust unterbreche. Man will gemeiniglich eine Oper eine musikalische Tragödie oder Comödie nennen. Allein umsonst. Sie könnte so heißen; wenn sie nach den obigen Regeln der Alten eingerichtet wäre: Aber man zeige mir doch solche Opern! Wollte aber ja jemand eine von der Art verfertigen: so würden auch die rechten Kenner derselben sie gewiß für schlechte Stücke in der Art erklären, und gegen alle andere verachten. Man sehe hier was der Critische Musikus hin und wieder, auf eine sehr gründliche Art von dieser Sache geschrieben hat.

10. §. Bisher habe ich meine Gedanken von Opern mit Gründen bestärket: nunmehro will ich mich wider diejenigen auch mit Zeugnissen verwahren, die sich dadurch mehr, als durch gute Beweisthümer einnehmen lassen. Denn ich bin zu allem Glücke weder der erste, noch der einzige, der dieser Meynung von Opern beypflichtet. Mein erster Wehrmann sey also la Bruyere, in seinen Charactern TOM. I. PAG. 90. »Ich weis nicht«, sagt er, »wie es kömmt, daß die Opern, bey einer so vollkommenen Musik und recht königlichen Unkosten nichts anders, als Ekel und Verdruß bey mir gewirket haben. Es giebt Stellen in Opern, die mir ein Verlangen nach andern dergleichen erwecken: oft aber entfährt mir der Wunsch; daß sie doch nur bald zum Ende wäre! Bloß aus Schuld der[369] Schaubühne, der Vorstellung, und aus Mangel anziehender Sachen. Bis auf diesen Tag ist die Oper kein Gedichte, sondern ein Vers; ja nicht einmal ein Schauspiel, seitdem durch die Sparsamkeit Amphions (Lulli) und seiner Nachkommen die Maschinen verschwunden sind: es ist ein Concert der Sängerstimmen, die durch Instrumente unterhalten werden.« Und auf der 93. Seite stellt er die Tragödie mit der Oper in eine Vergleichung: um zu zeigen, daß diese letzte keine musikalische Tragödie heißen könne. »Ein tragisches Gedichte beklemmt einem gleich im Anfange das Herz, und läßt uns im Fortgange kaum die Zeit, Athem zu holen und wieder zu uns selbst zu kommen: oder, wenn es einen einigermaaßen ruhig werden läßt, so stürzt es doch gleich darauf nur in neue Verwirrungen und Abgründe. Es führt uns durch das Mitleiden zum Schrecken, oder umgekehrt, durch das Schrecken zum Mitleiden; und leitet durch Thränen, durch Seufzer, durch Furcht, durch Hoffnung, durch Erstaunen und Entsetzen bis zum Ausgange. Da ist also kein Gewebe artiger Empfindungen und Sprüchelchen, zärtlicher Erklärungen, verliebter Gespräche, anmuthiger Beschreibungen, süßlichter Zuckerworte; die zuweilen lustig genug sind, ein Gelächter zu erwecken: darauf sich denn unverhofft in dem letzten Auftritte die Aufrührischen, ohne alle vernünftige Ursache, empören, und dem Wohlstande gemäß, noch Blut vergießen; indem es etwa einen Unglückseligen das Leben kostet.« u.s.w.

11. §. Mein andrer Zeuge soll Racine seyn, dessen Trauerspiele uns gewiß einen hohen Begriff von seiner Stärke in der Poesie beybringen müssen. Die Gräfin von Montespan und ihre Schwester waren der Opern des Quinaut überdrüßig geworden, und bathen den König, doch einmal durch den Racine dergleichen verfertigen zu lassen. Aus Uebereilung, oder vielleicht aus Ehrerbiethung, übernahm dieser die Arbeit; und dachte nicht daran, was er oft gegen den Boileau gesagt hatte: Es sey nicht möglich, eine gute Oper zu machen; weil die Musik zum Erzählen sich nicht schicket,[370] und die Gemüthsbewegungen nicht in ihrer gehörigen Stärke abgeschildert werden können; ja weil endlich die wahrhaftig hohen und herzhaftesten Ausdrückungen nicht in die Musik gesetzet werden können. Dieses stellte ihm Boileau vor, als er ihm sein Versprechen eröffnete; und ungeachtet er demselben Recht gab, so war es doch nicht mehr Zeit umzukehren. Er fieng also an, von dem Falle Phaetons eine Oper zu schmieden, und las dem Könige etliche Verse davon vor. Doch Racine arbeitete mit Verdruß daran, und verlangte, Boileau sollte ihm helfen, oder zum wenigsten den Vorredner machen. Dieser wehrte sich, so viel ihm möglich war; that doch aber insgeheim einen Versuch, davon wir hernach hören werden. Indessen fuhr jener fort an seinem Werke zu arbeiten, und Boileau stund ihm mit gutem Rathe bey; als zu allem Glücke etwas darzwischen kam, und sie von dieser Qvaal befreyete. Quinaut, der vielleicht fürchtete, von diesen großen Meistern übertroffen zu werden, that dem Könige mit Thränen eine Fußfall, und stellete ihm aufs beweglichste vor; was ihm das für ein Schimpf seyn würde, wenn er nicht mehr die Ehre hätte, für Seine Majestät zu arbeiten: worauf der König aus Mitleiden obgedachten Damen zu verstehen gab; er könne dem armen Manne unmöglich den Verdruß wiederfahren lassen. SIC NOS SERUAUIT APOLLO! rufft Boileau aus, da er diese kleine Geschichte erzählet; und der gute Racine legte seine Oper mit Freuden an die Seite: ja da man selbige auch nach seinem Tode nicht einmal gefunden hat; so ist zu vermuthen, es habe derselbe, aus Zärtlichkeit seines poetischen Gewissens, dieselbe gar unterdrücket.

12. §. Das dritte Zeugniß giebt Boileau selbst, der nicht nur in dieser Erzählung, die ich von ihm habe, seinen Abscheu vor den Opern genugsam entdecket; sondern auch in eben dem Vorredner, den er aufzusetzen angefangen, seine Meynung deutlich an den Tag gelegt hat. Er führt darinn die Poesie und Musik redend ein, davon ich einen kleinen Theil übersetzen will: Die Poesie. Was! glaubst du durch eitle[371] Accorden und ohnmächtige Töne alles das auszudrücken, was was ich sage? Die Musik. Ja, ich glaube, daß ich in die süßen Entzückungen, womit dich Apollo begeistert, die Süssigkeit meiner Melodien einmischen könne. Die Poesie. Ja, ja, bey dem Rande eines Brunnens kannst du zwar, nebst mir, eine verliebte Marter beseufzen, den Thirsis klagen, und Climenen ächzen lassen. Allein wenn ich Helden und Götter reden lasse; so kann dein verwegnes Singen mir nichts als einen eitlen Tact geben: darum schlage dir diese stolze Bemühung nur aus dem Sinne. Die Musik. Ich verstehe aber die Kunst, deine seltsamsten Wunder noch schöner zu machen. Die Poesie. Mag man alsdann deine Stimme nicht hören. Die Musik. Vorzeiten haben ja Felsen und Wälder Ohren bekommen, meine Töne zu hören. Die Poesie. Ach Schwester, genug; wir müssen uns trennen. Ich will mich entfernen: und dann laß einmal sehen, was du ohne mich ausrichten wirst, etc. Hieraus ist nun leicht die Ursache zu errathen, warum dieser große Criticus in seiner ART POETIQUE, wo er aller übrigen Gedichte gedenkt, an die Oper mit keiner Sylbe gedacht; wohl aber in seinen Satiren den damaligen größten Opernschreiber Quinaut ausgelacht hat:


LA RAISON DIT, VIRGILE, ET LA RIME, QUINAUT.


13. §. Mein viertes Zeugniß soll mir St. Evremond geben; der einen eigenen Discurs über die Opern gemacht, und darinn seine Gedanken davon ausführlich entdecket hat. Er setzt gleich anfangs diese Beschreibung der Oper zum Grunde: Sie sey ein ungereimter Mischmasch von Poesie und Musik, wo der Dichter und Componist sich sehr viel Mühe machen, und einander die größte Gewalt anthun, ein sehr elendes Werk zu Stande zu bringen. Nun kann man sich leicht einbilden, was auf diesen Eingang für eine Abhandlung folgen werde. Es ist werth, daß ein jeder den ganzen Discurs lese, weil er das stärkste ist, was ich wider die Opern gefunden habe. Man kann ihn[372] in den Schriften der deutschen Gesellschaft auch übersetzt antreffen. Er ist aber damit nicht zufrieden, daß er eine Critik darüber geschrieben; sondern hat sich gar die Mühe genommen eine ganze Comödie zu machen, der er den Titel, LES OPERA, gegeben. Seine Absicht darinn ist, nach dem Muster des Cervantes im Don Quixote, das Lächerliche der Opern empfindlich zu machen: Darum dichtet er, daß ein junges Frauenzimmer in einer gewissen Stadt, aus dem beständigen Lesen der RECUEILS DES OPERA, verrückt im Kopfe geworden, und, anstatt der gewöhnlichen Sprache, den Leuten lauter Operarien vorgesungen. Der Knoten in der Fabel ist dieser, daß sie einen alten Officier zum Freyer bekömmt; dem sie aber in lauter galanten Liederchen den Korb giebt, und ihren Aeltern selbst den Kopf mit ihrem Singen wüste macht: indessen aber mit einem andern jungen Stutzer, der sich ihrer Thorheit bequemete, und ihr auch lauter musikalische Liebeserklärungen that, ganze Operscenen vor Cadmus und Hermionen spielete. Wer dieses alles deutsch lesen will, der schlage den II Band meiner Schaubühne nach. Ich bin versichert, daß der größte Opernfreund sich, bey der Vorstellung einer solchen Comödie, des Lachens nicht sollte enthalten können.

14. §. Mein fünftes Zeugniß nehme ich aus dem RIVIERE DU FRENY in seinen AMUSEMENS SERIEUX & COMIQUES, auf der 22. Seite. Er führt daselbst einen Siameser in Paris herum, und da heißt es: Es ist 4. Uhr. Lasset uns in die Oper gehen. Wir brauchen wenigstens eine Stunde Zeit, ehe wir uns durch alle das Volk drängen, welches die Thüre belagert. Wie? sprach mein Siameser zu mir, was redet ihr von der Thüre? Nach der prächtigen Vorstellung, die ich mir von der Oper mache, müßte man nicht anders, als durch ein kostbares Thor hinein gehen. Hier seht ihr den Eingang; sprach ich, indem ich ihm einen sehr finstern Winkel zeigte. Wo denn? sagte er, ich sehe ja nichts, als ein kleines Loch in einer Mauer, allwo man etwas austheilet. Wir wollen hinzutreten! Was soll dieses? Welche Thorheit! Einen Louis d'or für ein klein Kartenblättchen![373] Doch stille! Ich wunder mich nicht mehr, daß es so theuer ist; denn ich sehe einige Characteres darauf, welche unfehlbar eine geheime Wirkung haben werden. Ihr betrüget euch nicht gänzlich, sprach ich zu ihm: es ist ein Paß, damit man in das Land der Bezauberungen eingelassen wird. Kommt geschwinde hinein: wir wollen uns auf die Schaubühne setzen. Auf die Schaubühne? sagte mein Siameser, ihr scherzt! Wir wollen ja nur zusehen; wir wollen nicht selber spielen. Das thut nichts, sprach ich, kommt nur mit. Man hört daselbst übel, man siehet nichts; aber es ist der theureste, und folglich der vornehmste Platz. Indessen, weil ihr der Opern noch nicht gewohnt seyd; so würdet ihr auf der Schaubühne auch das Vergnügen nicht haben, welches den Verlust des Schauspiels ersetzet. Kommt also mit mir in eine Loge. Indessen, daß man jene Leinwand aufziehet, will ich euch von den Ländern, die dahinter liegen, etwas erzählen. Die Oper ist, wie gesagt, eine bezauberte Gegend. Es ist das Land der Verwandlungen. Man sieht da die allerschleunigsten. In einem Augenblicke werden die Menschen zu Halbgöttern, und die Göttinnen zu Menschen. Der Reisende ist daselbst der Mühe überhoben, das Land durchzuziehen; denn die Länder selbst reisen da vor seinen Augen. Hier kann man, ohne von der Stelle zu weichen, von einem Ende der Erden bis zum andern; von der Hölle zu den elysischen Feldern kommen. Wird euch in einer abscheulichen Einöde die Zeit lang? Ihr dörft nur pfeifen, so befindet ihr euch im Göttersaale. Pfeift noch einmal, so seyd ihr in dem Lande der Hexen. Die Hexen in der Oper bezaubern so gut wie die andern. Allein ihre Bezauberungen sind, bis auf die Schminke, natürlich. Ungeachtet man seit vielen Jahren allerley Erzählungen von den Hexen der vergangenen Zeit gemacht hat; so macht man doch noch viel mehrere von den Hexen der Oper. Sie sind vielleicht nichts gewisser; aber sie sind wahrscheinlicher. Diese sind von Natur gutthätig: nur den Reichthum theilen sie nicht unter ihre Freunde aus; sie behalten ihn für sich selbst. Wir wollen noch[374] ein Wort von den natürlichen Einwohnern der Opern sagen. Sie reden nicht anders als singend, sie gehen tanzend, und thun oft beydes, wenn sie die wenigste Lust dazu haben. Sie gehorchen alle dem Meister des musikalischen Chors, einem sehr unumschränkten Prinzen, der, wenn er seinen Zepter, der aus einer Rolle Papier besteht, erhebt, oder sinken läßt, alle Bewegungen dieses wunderlichen Volkes regieret. Die Vernunft ist unter diesen Leuten sehr rar. Weil sie den Kopf ganz voller Musik haben; so denken sie lauter Lieder, und sprechen lauter Töne. Dem ohngeachtet haben sie die Tonkunst so hoch getrieben, daß sie aus Operbüchern vernünftig würden reden können, wenn nur die Vernunft in Noten könnte gebracht werden.

15. §. Endlich und zum sechsten will ich mich auf den sinnreichen DES CALLIERES beruffen; der, wie bekannt ist, Verfasser der HISTOIRE POETIQUE DE LA GUERRE ENTRE LES ANCIENS & LES MODERNES ist. Im eilften Buche beschreibt er das Entsetzen, welches Orpheus, Amphion und Arion über den fürchterlichen Namen des Lulli, in der prächtigen Beschreibung der Opern empfunden, die Perrault in seinem Gedichte, LE SIECLE DE LOUIS LE GRAND, eingerücket hat. Orpheus will fast an seiner Kunst verzagen: aber ein italienischer Musikus, der kürzlich aus der Oberwelt gekommen, tröstet ihn wieder. Meynest du, sagt er, daß die meisten Men schen, die dem Lulli so begierig nachlaufen, sich besser auf die Musik verstehen, als die Bestien, die dich vormals begleiteten? Und müssen sie nicht recht dumm seyn, da sie unaufhörlich ihr Geld in die Oper tragen, um funfzigmal eben dasselbe zu hören? Ich verstehe das Handwerk, göttlicher Orpheus; drum sey getrost, ich werde dir zeigen: daß diese so berüchtigte Oper dasjenige gar nicht ist, wofür man sie ausgiebt. Hierauf fährt er fort, und gesteht zwar den französischen Symphonien eine große Schönheit zu: allein die poetischen Stücke, die man absinget, macht er desto ärger herunter. Er sagt, sie wären sehr übel ausgedacht, und schlecht eingerichtet, und würden von lauter[375] schwachen Stimmen abgesungen; davon man aus zwanzigen nicht eine verstehen könnte, weil sie durch die Instrumente ganz ersticket würden. Das Geräusche davon wäre für den kleinen Ort, wo man sie spielete, so groß, daß man kaum ohne Kopfschmerzen und vielmaliges Gähnen, nach Hause käme, wenn man es drey Stunden lang gehöret hätte. Indessen liefe alle Welt hinein, um der Mode gemäß, etliche Stunden übel zuzubringen. Es wäre nichts ekelhafters, als die kläglichen Recitative anzuhören, die den grösten Theil dieser Singspiele einnähmen: und der Musikus sollte von rechtswegen die Zuschauer bezahlen, daß sie sich die Geduld nehmen wollten, sich so lange plagen zu lassen. Die Sänger und Sängerinnen erzählten auf eine ganz unnatürliche Art, nämlich singend, solche Abentheuer, die aller Vernunft und Wahrscheinlichkeit zuwider liefen, keine Leidenschaften erregen könnten, und so schlecht gesetzt wären; daß der elendeste Stümper aus dem Stegreife eben solche Melodien erdenken könnte, als Lulli selbst in Noten gesetzt hätte. Endlich merket er an, daß sich Lulli zum Meister der ganzen Schaubühne aufgeworfen, und sich so gar den Poeten unterwürfig gemacht hätte: anstatt daß sich die Musik billig nach den Gedanken des Dichters richten sollte.

16. §. Darauf erscheint Lulli selbst im Reiche der Todten, und redet den Orpheus dergestalt an: Ich habe längst von dir reden hören, als von einem Meister in unsrer Kunst. Du sollst eine hübsche Leyer gespielet, und gar die Hölle damit bezaubert haben: allein nach reifer Ueberlegung dünkt es mich, du habest deinen Ruhm nur durch gewisse Künste erlanget. Was mich anlanget, so spiele ich eine Violine, und componire so ziemlich. Wir wollen mit einander zur Probe eine Oper spielen, die soll uns schon was einbringen. Die Griechen werden ja so neugierig seyn, als die Franzosen. An Poeten wird es uns nicht fehlen, die Verse zu machen. Apollo soll seinen Parnaß zum Theater hergeben; der Pegasus muß zur Maschine dienen, etwas durch die Luft fliegen zu lassen; die[376] neun Musen sollen Sängerinnen abgeben; Apollo mag auf der Leyer spielend, mit seinem glänzenden Wagen vom Himmel herunter kommen, wie ich ihn sonst schon bey Hofe vorgestellet habe. Man hat mir von einem gewissen Pfeifer, der Königinn Clytemnestra etwas erzählt, der auch dabey seyn muß. Ich möchte wissen, ob er so gut spielt, als Des Coteaux. Er soll ja mit seiner Musik die Keuschheit des Frauenzimmers befördert haben? Was mich anlangt, so gestehe ich es frey heraus, daß meine Sachen gerade das Gegentheil gewirket; und daß ich, als ein nützliches Werkzeug, an der Verderbung der Sitten meiner Zeiten gearbeitet habe. Nichts desto weniger verdienen sie eben den Ruhm, weil sie sich nach der Absicht ihres Urhebers gerichtet haben. Ueber eine so seltsame Rede erschrack Orpheus; sonderlich, daß er so verwegen von dem Apollo und den Musen gesprochen, und so gewinnsüchtig gewesen, da er selbst doch der bloßen Ehre halber gearbeitet hätte: worauf Lulli sie für Narren schimpft, und mit allerley närrischen Posituren davon läuft.

17. §. Ich habe nur einen gelinden Auszug von dem weit schärfern Urtheile dieses Kunstrichters gemacht; wie ein jeder, der es selbst nachlesen will, leicht sehen wird. Zu diesen Zeugnissen nun könnte ich noch ein siebentes hinzufügen, welches alle vorige an Wichtigkeit übertrifft. Es ist dieses des Muratori seines, der als ein Italiener, bey der Quelle aller schönen Opern, in Welschland, zu Hause ist, und sie als ein Poet und Kunstrichter am besten kennen muß. In seiner POESIA PERFETTA ITALIANA, hat er ein paar lange Capitel wider dieselben eingeschaltet: weil ich aber das eine davon bereits in den VI B. der Critischen Beyträge eingerücket habe, so will ich mich bloß darauf beziehen, und meine Leser dahin verweisen. Ich enthalte mich nunmehro noch, die Zeugnisse unserer Landesleute, und darunter des berühmten Neukirchs anzuführen, der in seinen Satiren, die in den hankischen Gedichten stehen, oft auf eben den Schlag davon geurtheilet hat. Ich gedenke auch des Zuschauers nicht, der sein Misfallen[377] darüber in den ersten Theilen oft zu verstehen gegeben. Ich erwähne auch des ungenannten Verfassers von dem englischen Buche THE GENTLEMENS RECREATION nicht, der in seinem poetischen Tractate p. 23. das lächerliche Wesen der Oper gleichfalls abgemalt: sondern ich überlasse nunmehro einem jeden die freye Wahl, ob er sich für, oder wider die Opern erklären wolle. Ich meines Theils habe für alle die geschickten und gelehrten Männer, die sich auch in diesem Stücke bey uns geübt haben, eine gebührende Hochachtung: ich erfreue mich aber mit dem großen Fenelon, dessen Gedanken von der Tragödie vorm I Bande meiner Schaubühne stehen, wenn das Operwesen theils so unvollkommen bleibet, theils in Deutschland mehr und mehr in Abnahme geräth. Das leipziger Operntheater ist seit vielen Jahren eingegangen, und das hamburgische hat gleichfalls nur neulich aufgehöret. Das braunschweigische liegt in den letzten Zügen, und es steht dahin, ob es jemals wieder in Flor kömmt. Auch in Halle und Weißenfels hat es vormals Operbühnen gegeben, andrer kleinen fürstlichen Höfe zu geschweigen; die aber alle allmählich ein Ende genommen haben. Dieses zeiget mir den zunehmenden guten Geschmack unsrer Landesleute, wozu ich ihnen Glück wünsche. Denn wären Liebhaber genug vorhanden gewesen, die einer solchen Lustbarkeit hätten beywohnen wollen: so würde man das Ende dieser Schaubühnen noch nicht gesehen haben. Dagegen sieht man, daß die Comödien und Tragödien täglich mehr und mehr Beyfall finden, und mit der Zeit allenthalben die Oberhand bekommen werden: wenn man nur erst großen Herren die gar zu große Liebe ausländischer Sprachen aus dem Sinne bringen wird. Das wird aber bloß auf unsre Poeten und Comödianten ankommen: deren jene schöne, regelmäßige Stücke zu verfertigen; diese aber dieselben gehörig aufzuführen beflissen seyn müssen.

18. §. Nun habe ich es zwar, seitdem die erste Auflage dieses Buches heraus ist, gesehen, daß zweene gelehrte und geschickte Männer, und sehr gute Poeten unsers Vaterlandes, wider die[378] bisher von mir behauptete Meynung von Opern geschrieben, und dieses Hauptstücke von Opern zu widerlegen gesucht haben. Der erste war Herr D. Hudemann, der damals noch in Hamburg lebte. Dieser wackere Mann gab bey seinen Gedichten auch eine Opera, und vor derselben noch eine Vertheidigung der Singespiele, gegen meine Dichtkunst heraus. Ich hielt es für nöthig, einem so geschickten und bescheidenen Gegner zu antworten; und that es wirklich in den Beyträgen zur critischen Hist. der D. Spr. P. und Ber. Was hätte mir aber angenehmers begegnen können, als daß diese meine Antwort so glücklich war, die Einwürfe meines gelehrten Widersachers gänzlich zu heben! Er that mir solches in einem höflichen Schreiben selbst zu wissen, und versicherte mich, daß er nunmehro völlig meiner Meynung wäre, ja, zum Zeichen seiner völligen Bekehrung von der Oper zum Trauerspiele, selbst, seine Poesie der tragischen Bühne zu gut brauchen wolle. Es hat auch derselbe wirklich Wort gehalten, und aus dem Racine die Phädra in deutsche Verse übersetzet; und ich wünsche nur, daß er dieselbe bald ans Licht stellen möge. Der freundschaftliche Briefwechsel, der seit der Zeit, zwischen diesem sinnreichen Dichter und mir, fortgedauret, ist mir desto angenehmer geworden, weil er aus einer Uneinigkeit in Meynungen seinen Ursprung gehabt.

19. §. Mein andrer Gegner ist der Herr von Uffenbach, gewesen, ein nicht minder scharfsinniger und lehrreicher Poet in Frankfurt am Mayn, woselbst er auch wichtige Aemter bekleidet. Auch dieser gelehrte Mann hatte seine Widerlegung meines Hauptstückes von Opern der Sammlung seiner Gedichte einverleibet; aber gleichfalls mit so vieler Höflichkeit und Bescheidenheit die Feder geführet, daß ich demselben die Antwort unmöglich schuldig bleiben konnte. Ich habe sie gleichfalls in den Critischen Beyträgen der Welt bekannt gemacht: und was wollte ich mehr wünschen, als daß ich auch mit dieser Vertheidigung meiner Meynung von Singespielen eben so glücklich gewesen wäre, als mit der ersten.[379] Nun habe ich zwar noch keine Nachricht davon: doch weil dieser gelehrte Mann weiter die Feder nicht angesetzet, und mir gleichwohl durch einen dritten Mann die Ehre gethan, mich begrüssen zu lassen: so glaube ich, daß der Unterscheid unsrer Meynungen voritzo so groß nicht mehr seyn wird. Sollte indessen jemand durch diese beyde Antworten noch nicht vollkommen von meiner Meynung überredet worden seyn: so bitte ich, daß er noch meine Vorrede, zu dem von Herrn M. Schwaben übersetzten Antilongin des D. Swifts, von dem Bathos der Opern durchlesen, und dem Beweise nachdencken wolle, den der gelehrte Herr D. Ludewig allhier in den Critischen Beyträgen gegeben hat: Daß eine Oper unmöglich gut seyn könne.

20. §. Noch einen Einwurf sehe ich vorher, den ich nicht unbeantwortet lassen kann. Was sollen aber große Herren, wird man sprechen, zu ihrer Ergetzung, bey großen Solennitäten, für Lustbarkeiten anstellen: wenn man die Opern so gar abschaffen will? Sollen sie denn an Pracht und Kostbarkeit vor gemeinen Bürgern nichts voraus haben? Ich antworte erstlich: ein gutes Trauerspiel kann mit eben solcher Pracht aufgeführet werden, als ein Singespiel, wenn man nur an Verzierung und Erleuchtung der Schaubühne, an den Kleidungen der Comödianten, an der Musik, und an Tänzen, die zwischen den Aufzügen eingeschaltet werden, nichts sparen will. So habe ich zu unsers hochseligen Königs Augusts Zeiten die französischen Trauerspiele auf dem dreßdenischen Opertheater im Zwinger vielmals aufführen sehen: und so ist auch mein sterbender Cato, auf der braunschweigischen großen Schaubühne, vor des hochseligen Herzogs Ludewigs Rudolphs Durchl. einmal von der neuberischen Gesellschaft aufgeführt worden. Doch gesetzt, man wollte noch etwas anders auf der Schaubühne haben, dabey mehr Musik, und mehr Vorstellungen vorkämen: so kann schon Rath dazu werden, ohne zu den Opern seine Zuflucht zu nehmen. Man erfinde doch nur künstliche Ballete, nach Art der alten Griechen,[380] und neuern Franzosen. Diese werden zu der größten Pracht in Verkleidungen, zu neuen und seltsamen Verzierungen der Schaubühne, zu vielen musikalischen Compositionen, und recht sinnreichen und allegorischen Tänzen Gelegenheit an die Hand geben. Der gelehrte Menestrier hat im Französischen einen sehr schönen Tractat, DES BALLETS ANCIENS ET MODERNES, SELON LES REGLES DU THEATRE, geschrieben. Diesen preise ich allen denen an, die etwas zur Vergnügung großer Herren erfinden wollen, das neu ist, und in die Augen fällt. Wir haben auch in Deutschland schon Proben davon gesehen, nämlich am vorigen Hofe zu Berlin. Wer die besserischen Gedichte nachschlagen will, der wird sich einigen Begriff davon machen können; wiewohl diese Versuche vielleicht nicht in allen Stücken, nach den Regeln Menestriers, die Probe aushalten dörften. Man kann auch in dem Moliere einige solche Erfindungen nachlesen, die er am Hofe Ludewigs des XIV. angegeben hat.

21. §. Um von diesem schönen Werke einen kleinen Vorschmack, und denen, die zur Erfindung solcher Tänze Gelegenheit haben sollten, eine kleine Anleitung dazu zu geben; will ich einen kurzen Auszug aus demselben geben. Ich halte mich aber bey der Historie des Tanzens nicht auf. Ein jeder weis, daß es sehr alt ist. Die Schwester des Moses tanzte mit allen israelitischen Weibern nach dem Durchgange durchs rothe Meer, und sang dazu. Die Töchter von Siloh hatten ein jährliches Fest, da sie tanzten. David tanzte vor der Bundeslade, und vorhin hatten alle jüdische Weiber getanzt, als derselbe den Philister Goliath geschlagen hatte. Dieses waren nun fast lauter andächtige und religiöse Tänze. Eben so haben die heidnischen Völker bey ihrem Gottesdienste allerley Tänze eingeführt gehabt; ja sie sind auch in der ersten Kirche an vielen Orten eingeführt gewesen, wo man sie in dem Chore der Kirchen, der als eine Schaubühne erhaben war, gehalten; bis sie vieler Misbräuche halber abgeschaffet worden. Die alten Kirchenväter haben wider die theatralischen Tänze der Heiden[381] geeifert, nicht weil sie Tänze waren; sondern weil sie sehr freche und üppige Tänze waren, die ein große Aergerniß gaben. Von solchen geistlichen Tänzen aber ist hier gar nicht die Rede, wenn wir von den Balleten handeln: und also darf man gar nicht besorgen, daß dadurch das Heidenthum mit seinen Schandbarkeiten wieder eingeführet werden würde.

22. §. Wir wollen uns auch bey denen Tänzen nicht aufhalten, die nach den besten alten Dichtern den heidnischen Gottheiten beygelegt worden. Beym Athenäus tanzet einmal Jupiter selbst. Pindarus nennt den Apollo einen Tänzer: Virgil läßt Dianen mit ihren Nymphen an dem Flusse Eurotas tanzen. Apulejus sagt, Venus habe auf der Psyche Hochzeit getanzet; und Horaz setzt hinzu, sie habe es bey Mondenscheine, in Gesellschaft der Gratien, auch einandermal gethan. Bacchus soll in Indien getanzt haben. Hesiodus läßt die Musen um den Altar Apollons vor Sonnen-Aufgange tanzen. In einer Idylle des Theokritus tanzen die Nymphen der Brunnen; und im Virgil tanzen auch die aus den Schiffen verwandelten Seenymphen um den Aeneas her. Alles dieses führe ich an, um zu zeigen, daß man nach der Wahrscheinlichkeit der alten Fabeln, auch die Götter könne tanzen lassen: denn diese mythologische Personen haben an unsern Ballets einen großen Antheil: und so sparsam sie in den Trauerspielen statt haben, so häufig können sie in diesen Tanzspielen vorkommen. Ja in Ermangelung bequemer Gottheiten, kann man sich allegorische Personen dichten, und sie tanzend aufführen. Z.E. Die Jahreszeiten, die Welttheile, die Schutzgeister der Länder und Völker, die Monathe, die vier Winde, die sieben Planeten, die Stunden des Tages und der Nacht, die himmlischen Zeichen, die Tugenden und Laster, die Wissenschaften und Künste; kurz, alles was ein Poet, durch eine Personendichtung redend einführen kann, das kann auch in einem solchen Tanzspiele, tanzend vorgestellet werden.

23. §. Wie nun ein jeder hieraus sieht, daß es bey diesen unsern Tänzen nicht nur auf die Figuren der Tänze allein,[382] sondern auch auf die tanzenden Personen ankömmt: Also muß ich auch gleich anfänglich erinnern, daß alle diese Tanzspiele allegorische und bedeutende Tänze in sich halten müssen. Fragt man nun, was denn diese Tänze bedeuten können und sollen? So antworte ich; erstlich eine Verehrung vornehmer Personen, an deren Festtagen sie aufgeführet werden: denn die Alten glaubten, daß das Tanzen eine Art des Gottesdienstes wäre, welche den Göttern sehr gefällig seyn müßte. Man meynt, dieses habe seinen Ursprung, aus der Meynung des Pythagoras, der dafür gehalten, daß GOtt eine Harmonie, (NUMERUS) oder ein Tact das ist ein abgemessenes, sehr wohl übereinstimmendes Wesen sey. Dem sey nun wie ihm wolle: so haben doch fast alle Völker bey ihrem Gottesdienste Musiken und Tänze gehabt; diejenigen Gottheiten zu verehren, denen die Feste geweihet waren. Daher ward auch in allen wohlbestellten Republiken die Jugend zum Tanzen angeführt, theils daß sie geschickt, theils daß sie stark von Leibe werden möchte: denn es gab auch martialische Tänze, die mit voller Rüstung, oder doch mit einigen Waffen geschahen. Selbst die lacedämonische Jugend war davon nicht ausgenommen: und die größten Helden haben solche Tänze theils geliebet, theils mitgemachet, wie die Exempel Merions aus Creta, des Ulysses, des Antiochus, des Polysperchon, des Philippus, Alexanders Vater, des Epaminondas, des Scipio, u.a.m. zeigen.

24. §. Doch unsre Tanzspiele sollen nicht nur bloße Tänze, sondern Allegorien, und redende Bilder gewisser Dinge seyn. Lucianus will das erste Muster solcher Ballete in der Bewegung der Sterne und Planeten finden, die mit der schönsten Harmonie geschieht: und es wäre nicht unmöglich, solche planetische Tänze, welche die berühmten Weltordnungen vorstelleten, aufzuführen, wie Postel in seinem Wittekind schon gedichtet hat. Die Aegyptier sind die ersten Erfinder hieroglyphischer Tänze gewesen. Plato ist ihr Bewundrer und Schüler gewesen, und kann denjenigen nicht genug loben, der zuerst die Harmonie des ganzen Weltgebäudes in einem Tanze vorgestellet[383] hat. Die Ausleger des Sophokles, Euripides und Aristophanes haben uns die Geheimnisse, die Plato unerklärt gelassen, entdecket. Sie sagen, alle Tänze der Aegyptier hätten die Bewegungen der Gestirne vorgestellt: weil sie allemal rings um ihre Altäre getanzet hätten, die gleichsam wie die Sonne in dem Mittelpuncte des Himmels, gestanden hätten. Daher wären nun in den Chören der Tragödien die Strophen, und Antistrophen entstanden. Denn erstlich hätten sie im Kreise von Morgen gegen Abend in die Runde getanzet, um dadurch die gemeine Bewegung des Himmels abzubilden: hernach aber hätten sie den Kreis von Abend gegen Morgen herum gedrehet, um dadurch die eigene Bewegung der Planeten wider die Ordnung der himmlischen Zeichen im Thierkreise vorzustellen. Zuletzt aber hätten sie noch die Epode, oder den Beschluß, stillstehend abgesungen; um dadurch die Unbeweglichkeit der Erdkugel abzubilden. Die Griechen haben diese ägyptische Erklärung verworfen, und die Tänze von dem Einund Ausgange des Theseus in den Labyrinth erkläret; als welcher Held die griechische Jugend zu Delos zuerst darinnen unterrichtet hatte.

25. §. Dieses ist nun die erste Art solcher bedeutenden Tänze gewesen, die mit zu den Schauspielen gezogen worden; und die Athenäus philosophische Tänze nennet, weil alles darinn ordentlich und bedeutend war. Agamemnon hat seiner Gemahlinn Clytemnestra, als er nach Troja zog, einen so philosophischen Tanzmeister hinterlassen, der ihr durch allegorische Tänze die Zeit verkürzen und zugleich die Liebe zur Tugend beybringen sollte: und dieses ist mit so gutem Erfolge geschehen, daß sie nicht eher verführet werden können, als bis Aegysthus diesen Meister ermordet hatte. Die Alten spielten auch im Tanzen den Ball, und daher kömmt das heutige Wort Ball, Ballet, womit man die Tänze benennet, von βάλλειν werfen: σφαιρα βαλλομένη, eine Kugel zum werfen, wie Suidas den Ball erklärt. Darauf haben sich allerley Meister der Ballete gefunden: Bathyllus von Alexandrien hat[384] lustige, Pylades aber ernsthafte und pathetische Tänze zu den Schauspielen erfunden. Solche Tänze nun waren geschickt, die Bewegungen des Leibes zu bessern, so wie die Tragödie die Regungen des Gemüths in Ordnung zu bringen dienen sollte. Aber überhaupt geben die Alten, die davon geschrieben haben, diese Erklärung eines solchen Tanzspiels: Es sey eine Nachahmung derjenigen Sachen, die man sagt und singet, durch abgemessene Geberden und Bewegungen des Leibes. Und Aristoteles sagt gar, daß man die Sitten und Gemüthsbewegungen, durch die harmonischen tactmäßigen Stellungen und Tritte ausdrücken müsse.

26. §. Es ist also mit den Balleten oder Tanzspielen nicht anders bewandt, als mit den übrigen Künsten: sie sind alle Nachahmungen, nur mit dem Unterschiede, daß, da die Malerey z.E. nur die Figur, die Farben und die Ordnung der Dinge vorstellen kann; diese Tanzkunst auch die Bewegungen ausdrücket, und sogar die Natur vieler Dinge und die verborgene Beschaffenheit des Gemüths abschildern kann. Diese Nachahmung nun geschieht durch die Bewegungen des Leibes, und zwar nach der Harmonie der Musik, welche gleichfalls die Gemüthsbewegungen ausdrücket. Es ist bekannt, wie vieles man mit Geberden und Bewegungen der Gliedmaßen des Leibes zu verstehen geben kann; und die Alten haben ihre Pantomimen gehabt, die sich alles, ohne ein Wort zu sprechen, auszudrücken getrauet. Man weis auch, daß jede Gemüthsbewegung ihre eigene Stellungen und Bewegungen hat, dadurch sie sich an den Tag legt. Solche Dinge nun müssen in den Tanzspielen vorgestellet werden. Wir haben an der FOLIE D'ESPAGNE, und vielleicht auch an dem so genannten AIMABLE VAINQUEUR, wenn dieser von zweyen getanzt wird; ein Paar Tänze, die solche Gemüthsbewegungen ausdrücken. Denn jener soll den spanischen Eigensinn, dieser aber die Gemüthsart zweyer Verliebten vorstellen, die bald sehr freundlich miteinander thun, bald kaltsinnig werden, bald sich erzürnen, sich aber dennoch wieder vertragen: und es fehlt nur ein Text dazu,[385] der sich zu allen diesen Geberden schicket, und sie zu erklären geschickt ist, so wird es ein jeder bemerken. Auch die englischen Tänze sind insgemein so allegorisch, wie z.E. der JALOUSIE-Tanz genugsam zeigen kann; der alten deutschen Schäfertänze zu geschweigen.

27. §. Doch ich vertiefe mich zu weit. Nun sollte ich weitläuftig lehren, wie ein Erfinder solcher Tanzspiele sich eine alte Geschicht, oder Fabel erwählen, oder auch eine neue ersinnen könne, die er in einem theatralischen Tanze vorstellen will. Ich sollte zeigen, wie diese Erfindung im Tanzen, gleichfalls eine Einheit in der Handlung oder Absicht haben muß, darauf alle ihre Theile abzielen. Ich sollte auch an die Hand geben, was für Mittel man habe, die Personen, die man tanzend aufführt, zu characterisiren. Ich sollte endlich zeigen, was man bey dem allen für Fehler begehen könne, und dieses mit Exempeln alter und neuer, guter und schlechter Ballete erläutern. Allein theils ist dieses schon in den vorigen Capiteln von Schauspielen geschehen, theils muß es ein Erfinder dieser Spiele aus dem Alterthume und der Mythologie wissen, theils ist es mir hier zu weitläuftig ins Werk zu richten. Uebrigens gehören aber auch geschickte Musikmeister und Tanzmeister dazu, die das, was der Poet erfunden, geschicklich auszuführen wissen. Daß ein vermögender großer Herr dazu gehöre, der zu dergleichen Spielen die Kosten hergeben kann, das versteht sich von sich selbst. Denn man braucht nicht allein eine prächtige Schaubühne, mit vielen Verzierungen, sondern auch fast bey jedem neuen Ballete, neue Maschinen, Kleidungen und Zierrathe in großer Menge. Was kostet nicht die große Anzahl Tänzer zu unterhalten, die sich oft bis auf 50. Personen und darüber erstrecken können?

28. §. Ich habe es noch vergessen zu erwähnen, daß aller Schönheit der Vorstellungen ungeachtet, dennoch oftmals diese allegorischen Tänze dem meisten Theile der Zuschauer wahrhafte hieroglyphische Figuren seyn würden, davon sie nichts verstünden: wenn nicht der Poet zuweilen den vornehmsten[386] Personen solcher Tanzspiele auch gewisse Worte zu reden und zu singen in den Mund legte. Diese werden nun in lauter Versen, doch kurz und gut gemacht: weil die Absicht nicht ist, durch Worte, sondern durch Bewegungen des Leibes etwas anzuzeigen. Doch wer davon mehrere Anleitung verlanget, der muß den oben gerühmten Menestrier nachlesen, wo er zugleich einen großen Vorrath von Erfindungen zu Balleten antreffen wird. Man kann auch die gelehrten Abhandlungen nachlesen, die in den MEMOIRES DE L'ACADEMIE DES BELLES LETTRES & DES INSCRIPTIONS, in verschiedenen Bänden dieses Buches vorkommen. Endlich lese man auch das oberwähnte Buch THE TASTE OF THE TOWN, wo gleichfalls in der III. Abtheilung von den Tänzen, und in der IV. von Chören gehandelt wird, die beyde zu dieser Absicht gehören. Vielleicht kommen einmal in Deutschland die Zeiten, da man durch dergleichen sinnreiche Erfindungen die Schaubühne wieder emporheben, und den bisherigen Wust der unnatürlichen Opern, in solche allegorische Tanzspiele; die abgeschmackten Haupt- und Staatsactionen, in herzrührende Trauerspiele, und die närrischen Burlesken der italienischen und andrer gemeinen Comödianten, in lehrreiche und scherzhafte Lustspiele verwandelt sehen wird.


ENDE.[387]

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 6,2, Berlin und New York 1968–1987, S. 360-388.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch einer critischen Dichtkunst
Gottsched, Johann Ch.; Birke, Joachim; Birke, Brigitte: Ausgewählte Werke. Versuch einer Critischen Dichtkunst / Erster allgemeiner Theil
Gottsched, Johann Ch.; Birke, Joachim; Birke, Brigitte: Ausgewählte Werke. Versuch einer Critischen Dichtkunst / Anderer besonderer Theil.
Gottsched, Johann Ch.; Birke, Joachim; Birke, Brigitte: Ausgewählte Werke. Versuch einer Critischen Dichtkunst / Variantenverzeichnis (Ausgaben Deutscher Literatur Des 15. Bis 18. Jahrhunderts)
Versuch Einer Critischen Dichtkunst: Durchgehends Mit Den Exempeln Unserer Besten Dichter Erläutert (German Edition)

Buchempfehlung

Brachvogel, Albert Emil

Narziß. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Narziß. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Albert Brachvogel zeichnet in seinem Trauerspiel den Weg des schönen Sohnes des Flussgottes nach, der von beiden Geschlechtern umworben und begehrt wird, doch in seiner Selbstliebe allein seinem Spiegelbild verfällt.

68 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon