Des II. Abschnitts V. Hauptstück.
Von Wirthschaften, Mummereyen, und Balletten.

[554] 1. §.


Eine große Verwandschaft mit den Opern haben die itzt benannten poetischen Erfindungen: nur mit dem Unterschiede, daß hier bey weitem nicht alles gesungen, sondern vieles nur geredet, vieles nur stumm vorgestellet, und vieles getanzet wird. Ich will von allem eine zulängliche Nachricht geben, und dadurch zeigen, daß große Herren auch in Ermangelung der Opern, bey ihren Höfen allerley Vergnügungen und poetische Lustbarkeiten anstellen können. Ich werde ihnen die Beyspiele ausländischer und einheimischer Fürsten vorhalten, die darinn ihre Vorgänger gewesen; ehe die Oper diese weit edlern Ergetzungen, daran die vornehmsten Leute selbst Theil nahmen, verdrungen. Denn sonder Zweifel vergnüget es fürstliche, gräfliche und adeliche Personen weit mehr, wenn sie Gelegenheit haben, selbst ihre Rollen, auf eine anständige Weise, mitzuspielen, und sich ihrem Character gemäß, mit ihrer Geschicklichkeit, vor einem ganzen Hofe zu zeigen; als wenn sie bloß müßige Zuschauer einer wälschen Castratenbande abgeben sollen; die durch den erhaltenen Beyfall, und die großen Kosten, so man auf sie wendet, so stolz wird, daß sie alle Hofleute hernach kaum über die Achsel ansieht. Ich kann mich hier zwar auf die tägliche Erfahrung beruffen; will aber doch aus vorigen Zeiten einen Beweis anführen. Im 1705ten Jahre gab ein Reisender von Adel, eine Relation vom Kaiserl. Hofe heraus, die sehr wohl geschrieben ist, und unter andern auch der[555] damaligen Opernhelden in Wien, ihre Sitten und Lebensart abschildert. Weil das Buch nicht überall zu haben ist, will ich ein Stück daraus meinen Lesern mittheilen.1

2. §. Was also die Wirthschaften betrifft, so hat es diese Bewandniß damit. Große Herren wollen bisweilen zur Lust, auch die Süßigkeit des Privatstandes schmecken; und gleichsam, nach Art der Alten, Saturnalien feyren. Daher verkleidet sich insgemein der regierende Herr und seine Gemahlinn,[556] in einen gemeinen bürgerlichen Wirth, und in eine Wirthinn, und die andern fürstlichen Personen, die man etwa beehren und bewirthen will, in Gäste; ihre Hofbedienten aber in Hausknechte, Köche, Kellner, Diener, Küchenmägde, Hausmägde, Gärtnerinnen, auch wohl Bauermädchen. Unter diesen angenommenen Gestalten, wird nun irgend entweder eine Hochzeit, oder nur sonst ein Gastmahl, welches die Alten eine Wirthschaft nenneten, vorgestellt: jede Person aber pflegt irgend, auf des Poeten Angeben, gewisse Verse bey Gelegenheit herzusagen. So finden wir z.E. Kanitzen dergleichen poetische Gedanken auf eine Wirthschaft, die 1682, bey einer Wirthschaft in Berlin, eine Diane, eine Sultaninn, der Sultan, der Schäfer, die Zigeunerinn, die Mohren, der Hausknecht, der Charlatan, ein Jude und zwo Jüdinnen, ein Pickelhering, eine Moscowiterinn, eine Gärtnerinn, hersagen sollen. Eben dergleichen findet man in Bessers Gedichten; wo bey dem Jahrmarkte und der Masquerade, die der Churfürst Friedrich 1700. auf den Geburthstag der Gemahlinn gefeyert, verschiedene vermummte Damen als Quacksalber, Zigeunerinnen und Taschenspieler vorgestellet, und redend eingeführet werden. Wollte man nun gleich sagen, der Dichter habe nur diese zufälligen Gedanken über die also verkleideten Personen ausgelassen: so sehe ich doch, daß sie alle ausdrücklich so aufgesetzt sind, daß jede Person sie nach ihrem Character hat reden können, um die Gesellschaft zu vergnügen. Z.E. Diana, die Zweifelsfrey von einer großen Prinzessinn, vieleicht der Churfürstinn selbst vorgestellet worden, spricht:


Wo hab ich mich verirrt? wo bin ich eingekehret?

Warum ist dieser Ort so herrlich ausgerüst?

Es scheinet, wo ich bin, daß auch mein Tempel ist,

Weil hier so manches Volk, als Göttinn, mich verehret.


3. §. Sollte es jemanden bedünken, daß dieses schon einigermaßen zu den Mummereyen, oder Maskeraden gehöre; so[557] will ich nicht sehr zuwider seyn, und aus dem P. Menestrier, ein altes Muster einer schönen Verkleidung anführen, welches in Wälschland, gegen das Ende des XV. Jahrhunderts von dem Bergonzo Botta, einem Lombardischen von Adel zu Tortona, dem Herzoge von Meyland, Joh. Galeazzo, zu Ehren, bey dessen Beylager mit der Prinzessinn Isabella von Arragonien, vorgestellet worden. Als alles bey der Tafel saß: so ward keine Schüssel aufgetragen, dabey nicht eine vermummte Person, mit einem Gedichte, Liede, oder einer Fabel aus dem Alterthume erschien. Z.E. Jason brachte das goldne Vließ aus Kolchis. Mercur erzählte, mit was für List er dem Apollo, der des Admetus Vieh weidete, ein Kalb gestohlen, um dieser Mahlzeit das Gebratene zu liefern. Diana brachte den in einen Hirsch verwandelten Actäon geführet, und nachdem sie die Ursache ihres Zornes erkläret, schloß sie für ein Wild, das aus einem Menschen entstanden wäre, sey kein würdiger Grab, als der Durchl. Braut Magen, zu ersinnen. Orpheus kam, und sagte, als er auf dem apenninischen Gebirge den Verlust seiner Euridice beweinet, und von diesem prächtigen Beylager gehöret, wären zu dem Klange seiner Leyer die leckersten Vögel herzu geflogen, die er hiermit zur Tafel liefern wollte. Atalanta brachte des kalydonischen Ebers Kopf, den sie so viel Jahrhunderte aufbewahret hätte, zu diesem Feste; und gestund, daß sie der Durchl. Braut an Schönheit gern weichen wollte. Als ein gekochter Pfau aufgetragen ward, kam Iris, der Juno Vorläuferinn, die einen Wagen führte, der von Pfauen gezogen ward; und Argus trug die Schüssel. Theseus brachte das übrige von dem Eber; Hebe, Jupiters Mundschenkinn, trug das Confect auf, und sagte, daß es Ambrosia von der Göttertafel wäre. Arkadische Schäfer brachten Käse und Milchspeisen, die Pan selbst zubereitet hätte. Vertumnus und Pomona brachten Früchte, und sagten, sie hätten mit Fleiß ihre Zeitigung beschleuniget. Die Najaden und Flußgötter, brachten Fische, Austern und Muscheln. Ulysses[558] endlich brachte eine Sirene geführet, die er gefangen hätte, um sie der fürstlichen Braut zu schenken.

4. §. Als die Tafel aufgehoben war, kam Orpheus in griechischer Tracht, und foderte den Hymen singend auf. Dieser erschien, von einem Schwarme kleiner Liebesgötter begleitet, die wechselsweise ein Brautlied sungen! Die drey Gratien mit einem Gürtel umgeben, erschienen im Dreyecke, und dreheten sich geschicklich in die Runde, wobey die letzte artige Verse gegen die Braut hersagte. Die eheliche Treue folgte in einem schneeweißen Kleide, und trug ein weißes Häschen in der Rechten, und ein Halsband von Jaspis in der Linken: womit sie sich der Braut zu eigen widmete. Hierauf kam Merkur vom Himmel geflogen, und brachte die Fama geführet. Diese ward vom Virgil an einer, und dem Livius an der andern Seite begleitet, und erklärte ihr Amt, in ewiger Ausbreitung alles Guten und Bösen. Virgil sagte darauf ein lateinisches Gedicht her. Nun erschien Semiramis, von einem Schwarme unzüchtiger Weiber, Helena, Medea, Kleopatra, begleitet; die aber, als sie ihre Schandthaten erzählen wollten, von der ehelichen Treue bestrafet, und auf ihren Befehl von den Liebesgöttern mit ihren brennenden Fackeln, womit sie ihre Kleider ansteckten, hinausgetrieben wurden. Nun erschien ein Chor ehrbarer Frauen; Penelope, Lucretia, Tomyris, Judith, Portia, Sulpitia, die alle mit Versen die Tugend priesen, und die Prinzessinn Isabella lobten. Zum Beschlusse kam noch ein betrunkener Silen auf seinem Esel ins Zimmer geritten, der so lange herumtaumelte, bis er vom Esel fiel, und der ganzen Vorstellung ein lustiges Ende machete. Nun urtheile man, ob wohl was sinnreichers und artigers ausgedacht werden kann, als dergleichen maskirte Vorstellung, darinn sich Erfindung, Witz und Pracht zugleich gezeiget, und so zu reden, die ganze Dichtkunst ihre Reichthümer erschöpfet hat, ein Beylager zu verehren.[559]

5. §. Doch ich muß noch eins anführen, welches der engl. Aufseher im II. Bande, im 115. St. aus dem Strada genommen, und beschrieben hat. Dieses ist Pabst Leo dem X. zu Ehren aufgeführet worden: ich will es aber mit den eigenen Worten der Uebersetzerinn hier einrücken:

Man weis überall, daß Pabst Leo der Zehnte ein großer Gönner der Gelehrsamkeit gewesen, und bey den Ausführungen, Gesprächen und Disputationen der besten Schriftsteller seiner Zeit zugegen zu seyn pflegte. Auf diesen Grund erzählet Strada folgendes: Als dieser Pabst auf seinem Lusthause gewesen, welches auf einer Höhe an dem Ufer der Tiber gelegen, so hätten die Dichter folgendes Schauspiel zu seiner Ergetzung ausgesonnen. Sie haben einen hohen schwimmenden Berg gemacht, der gleich dem Parnaß, auf der Spitze gespalten gewesen. An diesem waren verschiedene Merkmaale, daß er zur Wohnung der epischen Poeten bestimmt wäre. Von allen Musen erschien die einzige Calliope. Der Berg war von oben bis unten mit Lorberwäldern bedeckt. Pegasus erschien an der Seite des Berges, nebst einem Fluße, der aus seinem Hufe entsprang. Dieser schwimmende Parnaß floß unter dem Klange der Trompeten den Fluß hinunter, und zwar in einer Art von epischem Maaße; denn er ward mit sechs Schrauben, drey an jeder Seite, fortgezogen, die durch ihre beständige Bewegung diese Maschine bis vor den Pabst führeten.

Die Ebenbilder der alten Poeten waren auf solche Plätze gestellet, die eines jeglichen Charactere gemäß waren. Statius stund auf der höchsten von den zwo Spitzen, die als ein Abgrund gebildet war, und über den übrigen Theil des Berges auf eine schreckliche Art hing, so daß die Leute ihn mit eben dem Entsetzen, und mit derselben Begierde ansahen, als sie einem kühnen Seiltänzer zusehen, von dem sie alle Augenblicke fürchten, er werde fallen.

Claudian saß auf dem andern Hügel, der etwas niedriger, und zugleich etwas ebener und gleicher war, als der vorige.[560] Man sah auch daß er fruchtbarer war, und an einigen Orten Gewächse hatte, die in Italien unbekannt und von der Art sind, die die Gärtner ausländisch nennen.

Lucretius war mit dem Fusse des Berges sehr beschäfftiget, indem er lediglich auf die Bewegung und Einrichtung dieser Maschine acht gab, welche unter seiner Aufsicht stund, und auch wirklich von ihm erfunden war. Er war zuweilen in das Schraubwerk so sehr vertieft, und mit Maschinen bedeckt, daß nicht viel über die Hälfte des Dichters den Zuschauern sichtbar blieb, ungeachtet zu anderer Zeit, wenn das Uhrwerk gieng, er mit erhoben und so sichtbar ward, als seine Mitbrüder.

Ovidius hielt sich an keinen festen Ort, sondern flatterte über den ganzen Parnaß mit großer Behendigkeit und Flüchtigkeit. Da er nun nicht viel nach der Arbeit und Mühe fragte, welche erfodert ward, um auf den obern Theil des Gipfels zu kommen, so schwärmete er beständig an dessen Boden herum.

Keiner aber stund auf einem höhern Orte, und hatte eine größere Aussicht vor sich, als Lucan. Er sprang auf den Pegasus gleich dem hitzigen und unerschrockensten Jünglinge, und schien begierig zu seyn, auf dessen Rücken bis in die Wolken zu dringen. Da aber die Hinterbeine des Thieres im Berge steckten, indem der übrige Leib sich in freyer Luft aufbäumte, so erhielt sich der Dichter mit genauer Noth, daß er nicht hinunter glitte: so daß das Volk ihn auch schon oftmals aufgab, und alle Augenblicke aufschrie, er fiele bereits.

Virgil, dessen Blicke sehr bescheiden waren, saß neben der Kalliope, mitten in dem Lorberwäldchen, welches dick um ihn herum wuchs, und ihn fast mit seinem Schatten verdeckte. Er wollte in dieser Eingezogenheit fast nicht einmal gesehen seyn: allein es war unmöglich, die Kalliope zu sehen, ohne zugleich auch den Virgil zu erblicken.

Kaum war diese poetische Mummerey vor des Pabstes Lusthause angekommen, als sie auf das Land gebethen ward,[561] welches sie auch that. Der Saal, so zu ihrer Aufnahme zubereitet war, erfüllte eine Versammlung von den vornehmsten Personen an Stande und Artigkeit. Die Dichter satzten sich, und lasen jeglicher ein Gedicht in der Schreibart, und mit demselben Schwunge vor, als die unsterblichen Dichter würden gethan haben, deren Stelle sie vertraten.

6. §. Noch ein ausländisches muß ich aus dem Crescimbeni anführen. Als im vorigen Jahrhunderte der Herzog von Braunschweig, zu Venedig war, ward ihm zu Ehren folgendes vorgestellet. Auf dem großen Canale kam ein ungeheurer Wallfisch geschwommen, auf welchem Morpheus der Gott des Schlafes saß, und ein Lied absang. Hierauf eröffnete sich das Ungeheuer, und verwandelte sich in einen Hügel, der eine Art der elysischen Felder, oder die Gärten der Hesperiden vorstellete, darinn alle Bäume voller Lampen waren, dazwischen man die schönsten Früchte sah. Darunter sah man auf dem Hügel in theatralischen Kleidungen ein kleines Drama aufführen, und mit einer schönen Musik beschließen. Ich schweige vieler andern, die zu Parma, Rom und Florenz vorgestellet worden. Ja man hat von solchen Mummereyen ein ganzes Buch, unter dem Titel CANTI CARNASCIALESCI, welches Grazini 1559. herausgegeben. Allein auch unsre Deutschen haben es an dergleichen Erfindungen nicht fehlen lassen. In David Schirmers Rautengepüsche von 1657. finde ich ein Drama, oder Liebesspiel der Nymphen und Satyren, darinn Nymphen, Satyren, Amuretten, Diana, und Jäger vorkommen, und in etlichen Auftritten ihre Personen spielen. Eben dahin rechne ich Georg Neumarks Gesprächspiel vom Lobe und den Gemüthsgaben Herzog Wilhelms des IV. zu Sachsen Weimar, welches an dessen 61sten Geb. Tage 1659. in einem theatralischen Aufzuge vorgestellet worden. Imgleichen den lobwürdigen Kadmus der 1663. in Kopenhagen, dem König von Dännemark Friedrich dem III. und der Königinn zu Ehren, von Adam Fr. Wernern, im Deutschen aufgeführet worden; und noch ein anders, das eben daselbst[562] und in eben dem Jahre, dem Churfürsten zu Sachsen, seiner Gemahlinn und seinem Churprinzen zu Ehren, unter dem Titel Masquerada, die Waldlust, vorgestellet, und zu Kopenhagen gedruckt worden. In Morhofs Gedichten findet sich endlich auch eine Masquerade auf des Herzogs von Holstein Geburtstag 1669, den 3. Febr. die man a.d. 157. S. bey ihm nachlesen kann.

7. §. In etwas neuerer Zeit hat Besser zu Berlin bey großen Feyerlichkeiten, eben dergleichen versuchet. Er nennt das eine, das 1696. der verw. Churfürstinn zu Sachsen, Eleonoren, zu Ehren angestellet worden, Florens Frühlingsfest. Darinn hat die Churfürstinn selbst die Flora vorgestellet; Marggraf Albrecht hat selbst einen Schäfer, der Churprinz, Fr. Wilhelm, den Cupido; andere Vornehme haben den Vertumnus, die Diana, den Silvan, die Pales, die Gratien, den Merkur, die Venus, den Mars, Schäfer und Schäferinnen vorgestellet; und viele Tänze haben das Spiel abgewechselt. Eben dergleichen scheint mir der Triumph der Liebe zu seyn; der 1700. an dem Beylagersfeste des damaligen Hessencasselischen Erbprinzen, und nachmaligen Königes von Schweden, Friedrichs, mit einer brandenb. Prinzeßinn, zwar als eine Tafelmusik aufgeführet worden, aber sich weit besser zu einer Verkleidung fürstlicher Personen geschicket hätte. Denn es ist ein Gespräch zwischen Peleus und Thetis, und ein Chor von Flußgöttern und Najaden stimmen mit ein; und alle thun Wünsche an das neue Paar. Endlich finde ich auch im Heräus dergleichen Erfindung, da er 1702. auf den Geb. Tag der Fürstinn von Sondershausen eine solche Masquerade, durch etliche kleine Prinzen aufführen lassen, deren einer den Cupido, der andere den Apollo vorgestellet. Dieses sind die Muster, die ich vor Augen gehabt, als ich vor einem Jahre für die durchl. Kaiserl. junge Herrschaft in Wien, ein kurzes Götterdrama aufsetzete, um selbiges an Ihrer Kaiserl. Königl. Maj. Hohem Namenstage vorstellen zu lassen: wie man im II. B. meiner Gedichte finden wird.[563]

8. §. Es ist Zeit, auf die Ballete zu kommen, welches künstliche, aus vielen Personen bestehende, und mehrentheils dramatische, d.i. etwas vorstellende und bedeutende Tänze sind. Denn gesetzt nun, daß die obigen Wirtschaften und Verkleidungen, an manchen Höfen nicht Beyfall fänden; oder wegen der Mühe im Auswendiglernen und Vorstellen, die dabey auch vornehme Personen trifft, sich nicht gar zu oft brauchen ließen: so darf man deswegen doch noch nicht zu den Opern seine Zuflucht nehmen. Denn fraget man mich: Was sollen aber große Herren zu ihrer Ergetzung, bey großen Solennitäten, für Lustbarkeiten anstellen? Oder sollen sie denn an Pracht und Kostbarkeit vor gemeinen Bürgern nichts voraus haben? so antworte ich erstlich: ein gutes Trauerspiel kann mit eben solcher Pracht aufgeführet werden, als ein Singespiel, wenn man nur an Verzierung und Erleuchtung der Schaubühne, an den Kleidungen der Komödianten, an der Musik, und an Tänzen, die zwischen den Aufzügen eingeschaltet werden, nichts sparen will. So habe ich zu unsers hochseligen Königs Augusts Zeiten, die französischen Trauerspiele, auf dem dreßdenischen Opertheater im Zwinger, vielmals aufführen sehen: und so ist auch mein sterbender Cato, auf der braunschweigischen großen Schaubühne, vor des hochseligen Herzogs Ludwigs Rudolphs Durchl. mehrmals von der neuberischen Gesellschaft aufgeführt worden. Doch gesetzt, man wollte noch etwas anders auf der Schaubühne haben, dabey mehr Musik, und mehr Vorstellungen vorkämen: so kann schon Rath dazu werden, ohne zu den Opern seine Zuflucht zu nehmen. Man erfinde doch nur künstliche Ballete, nach der Art der alten Griechen, und neuern Franzosen. Diese werden zu der größten Pracht in Verkleidungen, zu neuen und seltenen Verzierungen der Schaubühne, zu vielen musikalischen Compositionen, und recht sinnreichen allegorischen Tänzen Gelegenheit an die Hand geben.

9. §. Der gelehrte Menestrier hat im Französischen einen sehr schönen Tractat, dES BALLETS ANCIENS ET MODERNES,[564] SELON LES REGLES DU THEATRE, geschrieben. Diesen preise ich allen denen an, die etwas zur Vergnügung großer Herren erfinden wollen, das neu ist, und in die Augen fällt. Wir haben auch in Deutschland schon Proben davon gesehen. Vom 1661. Jahre habe ich ein gedrucktes Ballet von des Orpheus und der Euridice Trauergeschichte, ohne Ort und Verfasser. Am Bayreuthischen Hofe ist 1662. ein Ballet der Natur mit ihren vier Elementen, der Markgräfinn zu Ehren vorgestellet; und 1665. zu Dresden von Chyträus, auf eben diese Markgräfinn, ein Ballet der Elbe aufgeühret worden. Eben daselbst ist 1667. das Ballet der Glückseligkeit von Schirmern entworfen, und theils einzeln, theils in seinem Rautengepüsche gedrucket worden: und das Jahr darauf hat Morhof vor den Herzog von Holstein eins angegeben, wie in seinen Gedichten a.d. 135. u.f.S. zu lesen ist. Wer kann alle übrige erzählen, die ich auch selbst gedruckt besitze? Nur Bessern und den Heräus kann ich nicht vergessen, deren jener am Berlinischen, dieser am Sondershäusischen Hofe dergleichen angegeben. S. die 208. S. seiner Gedichte. Was Moliere hierinn für Erfindungen gehabt, wird einem jeden aus seinen Schriften bekannt seyn: wiewohl ich zweifle, ob alle die angeführten Stücke, nach Menestriers Regeln die Probe halten dörften.

10. §. Und von diesem schönen Werke einen kleinen Vorschmack, und denen, die zur Erfindung solcher Tänze Gelegenheit haben sollten, eine kleine Anleitung dazu zu geben; will ich einen kurzen Auszug aus demselben geben. Ich halte mich aber bey der Historie des Tanzens nicht auf. Ein jeder weis, daß es sehr alt ist. Die Schwester des Moses tanzte mit allen israelitischen Weibern nach dem Durchgange durchs rothe Meer, und sang dazu. Die Töchter von Siloh hatten ein jährliches Fest, da sie tanzten. David tanzte vor der Bundeslade, und vorhin hatten alle jüdische Weiber getanzet, als derselbe den Philister Goliath geschlagen hatte. Dieses waren nun fast lauter andächtige und religiöse, Tänze. Eben[565] so haben die heidnischen Völker bey ihrem Gottesdienste allerley Tänze eingeführt gehabt; ja sie sind auch in der ersten Kirche an vielen Orten gewöhnlich gewesen, wo man sie in dem Chore der Kirchen, der, wie man noch itzo in Deutschland sieht, als eine Schaubühne erhaben war, gehalten; bis sie vieler Misbräuche halber abgeschaffet worden. Die alten Kirchenväter haben wider die theatralischen Tänze der Heiden geeifert; nicht weil sie Tänze waren; sondern weil sie sehr freche und üppige Tänze waren, die ein großes Aergerniß gaben. Von solchen ungeistlichen Tänzen aber ist hier gar nicht die Rede, wenn wir von den Balleten handeln: und also darf man gar nicht besorgen, daß dadurch das Heidenthum mit seinen Schandbarkeiten wieder eingeführet werden würde.

11. §. Wir wollen uns auch bey denen Tänzen nicht aufhalten, die nach den besten alten Dichtern, den heidnischen Gottheiten beygelegt worden. Beym Athenäus tanzet einmal Jupiter selbst. Pindarus nennt den Apollo einen Tänzer: Virgil läßt Dianen mit ihren Nymphen an dem Flusse Eurotas tanzen. Apulejus sagt, Venus habe auf der Psyche Hochzeit getanzet; und Horaz meldet, sie habe es bey Mondenscheine, in Gesellschaft der Gratien, auch einandermal gethan. Bacchus soll in Indien getanzt haben. Hesiodus läßt die Musen um den Altar Apollons vor Sonnenaufgange tanzen. In einer Idylle des Theokritus tanzen die Nymphen der Brunnen; und im Virgil tanzen auch die aus den Schiffen verwandelten Seenymphen um den Aeneas her. Alles dieses führe ich an, um zu zeigen, daß man nach der Wahrscheinlichkeit der alten Fabeln, auch die Götter könne tanzen lassen: denn diese mythologischen Personen haben an unsern Ballets einen großen Antheil: und so sparsam sie in den Trauerspielen statt haben, so häufig können sie in diesen Tanzspielen vorkommen. Ja in Ermangelung bequemer Gottheiten, kann man sich allegorische Personen dichten, und sie tanzend aufführen. Z.E. Die Jahreszeiten, die Welttheile, die Schutzgeister der Länder und Völker, die Monate, die vier[566] Winde, die sieben Planeten, die Stunden des Tages und der Nacht, die himmlischen Zeichen, die Tugenden und Laster, die Wissenschaften und Künste; kurz, alles was ein Poet, durch eine Personendichtung redend einführen kann, das kann auch in einem solchen Tanzspiele, tanzend vorgestellet werden.

12. §. Wie nun ein jeder hieraus sieht, daß es bey diesen unsern Tänzen nicht nur auf die Figuren der Tänze allein, sondern auch auf die tanzenden Personen ankömmt: also muß ich auch gleich anfänglich erinnern, daß alle die Tanzspiele allegorische und bedeutende, d.i. wie man itzo spricht, pantomimische Tänze in sich halten müssen. Fragt man nun, was denn diese Tänze bedeuten können und sollen? So antworte ich; erstlich eine Verehrung vornehmer Personen, an deren Festtagen sie aufgeführet werden: denn die Alten glaubten, daß das Tanzen eine Art des Gottesdienstes wäre, welche den Göttern sehr gefällig seyn müßte. Man meynt, dieses habe seinen Ursprung, aus der Meynung des Pythagoras, der dafür gehalten, daß Gott eine Harmonie, (NUMERUS) oder ein Tact, das ist ein abgemessenes, sehr wohl übereinstimmendes Wesen sey. Dem sey nun wie ihm wolle: so haben doch fast alle Völker bey ihrem Gottesdienste Musiken und Tänze gehabt; diejenigen Gottheiten zu verehren, denen die Feste geweihet waren. Daher ward auch in allen wohlbestellten Republiken die Jugend zum Tanzen angeführet, theils daß sie geschickt, theils daß sie stark von Leibe werden möchte: denn es gab auch martialische Tänze, die mit voller Rüstung, oder doch mit einigen Waffen geschahen. Selbst die lacedämonische Jugend war davon nicht ausgenommen: und die größten Helden haben solche Tänze theils geliebet, theils mitgemachet, wie die Exempel Merions aus Creta, des Ulysses, des Antiochus, des Polysperchon, des Philippus, Alexanders Vater, des Epaminondas, des Scipio, u.a.m. zeigen.

13. §. Doch unsre Tanzspiele sollen nicht nur bloße Tänze, sondern Allegorien, und redende Bilder gewisser Dinge[567] seyn. Lucianus will das erste Muster solcher Ballete in der Bewegung der Sterne und Planeten finden, die mit der schönsten Harmonie geschieht: und es wäre nicht unmöglich, solche planetische Tänze, welche die berühmten Weltordnungen vorstelleten, aufzuführen; wie Postel in seinem Wittekind schon gedichtet hat. Die Aegyptier sind die ersten Erfinder hieroglyphischer Tänze gewesen. Plato ist ihr Bewunderer und Schüler gewesen, und kann denjenigen nicht genug loben, der zuerst die Harmonie des ganzen Weltgebäudes in einem Tanze vorgestellet hat. Die Ausleger des Sophokles, des Euripides und Aristophanes haben uns die Geheimnisse, die Plato unerklärt gelassen, entdecket. Sie sagen, alle Tänze der Aegyptier hätten die Bewegungen der Gestirne nachgeahmet: weil sie allemal rings um ihre Altäre getanzet hätten, die gleichsam, wie die Sonne, in dem Mittelpuncte des Himmels, gestanden hätten. Daher wären nun in den Chören der Tragödien die Strophen, und Antistrophen entstanden. Denn erstlich hätten sie im Kreise von Morgen gegen Abend in die Runde getanzet, um dadurch die gemeine Bewegung des Himmels abzubilden: hernach aber hätten sie den Kreis von Abend gegen Morgen herum gedrehet, um dadurch die eigene Bewegung der Planeten, wider die Ordnung der himmlischen Zeichen im Thierkreise vorzustellen. Zuletzt aber hätten sie noch die Epode, oder den Beschluß, stillstehend abgesungen; um dadurch die Unbeweglichkeit der Erdkugel abzubilden. Die Griechen haben diese ägyptische Erklärung verworfen, und die Tänze von dem Ein- und Ausgange des Theseus in den Labyrinth erkläret; als welcher Held die griechische Jugend zu Delos zuerst darinnen unterrichtet hatte.

14. §. Dieses ist nun die erste Art solcher bedeutenden Tänze gewesen, die mit zu den Schauspielen gezogen worden; und die Athenäus philosophische Tänze nennet, weil alles darinn ordentlich und bedeutend war. Agamemnon hat seiner Gemahlinn Clytemnestra, als er nach Troja zog, einen so[568] philosophischen Tanzmeister hinterlassen, der ihr durch allegorische Tänze die Zeit verkürzen, und zugleich die Liebe zur Tugend beybringen sollte: und dieses ist mit so gutem Erfolge geschehen, daß sie nicht eher verführet werden können, als bis Aegysthus diesen Meister ermordet hatte. Die Alten spielten auch im Tanzen den Ball: und daher kömmt das heutige Wort Ball, Ballet, womit man die Tänze benennet, von βάλλειν werfen: σφαῖρα βαλλομένη eine Kugel zum werfen, wie Suidas den Ball erklärt. Darauf haben sich allerley Meister der Ballete gefunden: Bathyllus von Alexandrien hat lustige, Pylades aber ernsthafte und pathetische Tänze zu den Schauspielen erfunden. Solche Tänze nun waren geschickt, die Bewegungen des Leibes zu bessern, so wie die Tragödie die Regungen des Gemüths in Ordnung zu bringen dienen sollte. Aber überhaupt geben die Alten, die davon geschrieben haben, diese Erklärung eines solchen Tanzspiels: Es sey eine Nachahmung derjenigen Sachen, die man saget und singt, durch abgemessene Gebärden und Bewegungen des Leibes. Und Aristoteles sagt gar, daß man die Sitten und Gemüthsbewegungen, durch die harmonischen tactmäßigen Stellungen und Tritte ausdrücken müsse.

15. §. Es ist also mit den Balletten oder Tanzspielen nicht anders bewandt, als mit den übrigen Künsten: sie sind alle Nachahmungen, nur mit dem Unterschiede, daß, da die Malerey z.E. nur die Figur, die Farben und die Ordnung der Dinge vorstellen kann; diese Tanzkunst auch die Bewegungen ausdrücket, und sogar die Natur vieler Dinge und die verborgene Beschaffenheit des Gemüthes abschildern kann. Diese Nachahmung nun geschieht durch die Bewegungen des Leibes, und zwar nach der Harmonie der Musik, welche gleichfalls die Gemüthsbewegungen ausdrücket. Es ist bekannt, wie vieles man mit Geberden und Bewegungen der Gliedmaßen des Leibes zu verstehen geben kann; und die Alten haben ihre Pantomimen gehabt, die sich alles, ohne ein Wort zu sprechen, auszudrücken getrauet. Man weis auch, daß jede Gemüthsbewegung[569] ihre eigene Stellungen und Bewegungen hat, dadurch sie sich an den Tag legt. Solche Dinge nun müssen in den Tanzspielen vorgestellet werden. Wir haben an der FOLIE D'ESPAGNE, und vieleicht auch an dem so genannten AIMABLE VAINQUEUR, wenn dieser von zweyen getanzt wird; ein Paar Tänze, die solche Gemüthsbewegungen ausdrücken. Denn jener soll den spanischen Eigensinn, dieser aber die Gemüthsart zweyer Verliebten vorstellen; die bald sehr freundlich mit einander thun, bald kaltsinnig werden, bald sich erzürnen, sich aber dennoch wieder vertragen: und es fehlt nur ein Text dazu, der sich zu allen diesen Gebärden schicket, und sie zu erklären geschickt ist; so wird es ein jeder bemerken. Auch die englischen Tänze sind insgemein so allegorisch, wie z.E. der JALOUSIE-Tanz genugsam zeigen kann; der alten deutschen Schäfertänze zu geschweigen.

16. §. Doch ich vertiefe mich zu weit. Nun sollte ich weitläuftig lehren, wie ein Erfinder solcher Tanzspiele sich eine alte Geschieht, oder Fabel erwählen; oder auch eine neue ersinnen könne, die er in einem theatralischen Tanze vorstellen will. Ich sollte zeigen, wie diese Erfindung im Tanzen, gleichfalls eine Einheit in der Handlung, ober Absicht haben muß, darauf alle ihre Theile abzielen. Ich sollte auch an die Hand geben, was für Mittel man habe, die Personen, die man tanzend aufführt, zu characterisiren. Ich sollte endlich zeigen, was man bey dem allen für Fehler begehen könne, und dieses mit Exempeln alter und neuer, guter und schlechter Ballete erläutern. Allein theils ist dieses schon in den vorigen Hauptstücken von Schauspielen geschehen; theils muß es ein Erfinder dieser Spiele aus dem Alterthume und der Mythologie wissen; theils ist es mir hier zu weitläuftig ins Werk zu richten. Uebrigens gehören aber auch geschickte Musikmeister und Tanzmeister dazu, die das, was der Poet erfunden, geschicklich auszuführen wissen. Daß ein vermögender großer Herr dazu gehöre, der zu dergleichen Spielen die Kosten hergeben kann, das versteht sich von sich selbst. Es wäre denn, daß in[570] einer großen Residenz, z.E. wie Wien ist, die Menge der Zuschauer so viel eintrüge. Denn hier habe ich 1749. auf der deutschen Schaubühne am Kärnther-Thore die artigsten pantomimischen Ballette vorstellen gesehen, die alle sehr redend waren, ungeachtet kein Wort dabey gesprochen wurde. Aber hier sah man auch eine prächtige Schaubühne, mit vielen Verzierungen, ja auch fast bey jedem neuen Ballette, neue Maschinen, Kleidungen und Zierrathe in großer Menge. Was kostet nicht die große Anzahl Tänzer zu unterhalten, die sich oft bis auf 30 und mehr Personen und drüber erstrecken können?

17. §. Ich habe es noch vergessen zu erwähnen, daß aller Schönheit der Vorstellungen ungeachtet, dennoch oftmals diese allegorischen Tänze dem meisten Theile der Zuschauer wahrhafte hieroglyphische Figuren seyn würden, davon sie nichts verstünden; wenn nicht der Poet zuweilen den vornehmsten Personen solcher Tanzspiele auch gewisse Worte zu reden und zu singen in den Mund legte. Diese werden nun in lauter Versen, doch kurz und gut gemacht: weil die Absicht nicht ist, durch Worte, sondern durch Bewegungen des Leibes etwas anzuzeigen. Doch wer davon mehrere Anleitung verlanget, der muß den oben gerühmten Menestrier nachlesen, wo er zugleich einen großen Vorrath von Erfindungen zu Balletten antreffen wird. Man kann auch die gelehrten Abhandlungen nachlesen, die in den MEMOIRES DE L'ACADEMIE DES BELLES LETTRES & DES INSCRIPTIONS, in verschiedenen Bänden dieses Buches vorkommen. Endlich lese man auch das oberwähnte Buch THE TASTE OF THE TOWN, wo gleichfalls in der III. Abtheilung von den Tänzern, und in der IV. von Chören gehandelt wird, die beyde zu dieser Absicht gehören. Vieleicht kommen einmal in Deutschland die Zeiten, da man durch dergleichen sinnreiche Erfindungen, die das vorige Jahrhundert schon gekannt, und geliebet, die Schaubühne wieder emporheben, und den bisherigen Wust der unnatürlichen Opern, in solche allegorische Tanzspiele; die abgeschmackten[571] Haupt- und Staatsactionen, in herzrührende Trauerspiele; und die närrischen Burlesken der italienischen und anderer gemeinen Komödianten, in lehrreiche und scherzhafte Lustspiele verwandelt sehen wird.

1

Ueber die Gelehrsamkeit versteht der Kaiser auch die Musik, und läßt oft in seiner Hofcapelle Stücke von seiner eigenen Composition aufführen. Das ist auch die Ursache, warum er verschiedene MUSICOS, sonderlich Italiener unterhält, die sich dann wegen dieser Zuneigung bey verschiedenen Gelegenheiten sehr ungebührlich aufführen. Es ist mehr als einmal geschehen, daß, wenn sie sind beysammen gewesen ein Concert zu halten, sie sich im Angesichte des Kaisers und ganzen Hofes geweigert, indem sie vorgegeben, sie würden nicht richtig bezahlet. – – – Ich kann sagen, daß ich diese Fasten selbst ein Zeuge ihrer Ungezogenheit gewesen. Denn als ein solcher Halbmensch sich durch das Volk die Stiege hinauf dringen wollte, als eben ein musikalisches Oratorium gesungen ward, ungeachtet er keine Partie dabey zu singen hatte, wollte er einen fremden Cavalier, so ihm im Wege stund, fortstoßen, und wie ihm dieser nicht sogleich den verlangten Respect bezeigete, sagte er gleichsam dräuungsweise: EGO SUM ANTONIUS MANNA, MUSICUS SACRÆ CÆSAREÆ MAJESTATIS; gleich als wenn ihn diese kleine Qualität gegen die ganze Welt hätte schrecklich machen sollen. – – – Wenn man aufrichtig sagen soll, was man dabey gedenket, so ist man wahrhaftig nicht wenig gegen die Musikanten erbittert, und hat man zu Venedig und durch ganz Italien solche empfindliche Gedanken über ihre Unbescheidenheit geführet: denn da sie von dem gemeinsten Pöbel herstammen, von welchem man sie nimmt, und sie hernach von großen Herren, in Ansehung ihrer Stimme, gesuchet und geliebkoset werden: so entreißt sich ihr kleiner Verstand bey diesen Gnadenbezeugungen, seiner Gränzen etc. Weil sie sich Geld verdienen, daß sie als Leute von Stande leben können, und einige Protection bey großen Herren genießen, so unterstehen sie sich, alle Leute ungestrafet zu beleidigen; ob sie gleich sonst mit allen Lastern angefüllet sind, daraus sie sich noch eine Ehre machen, um für Leute, die etwas zu sagen haben, angesehen zu werden. So redet man von den MUSICIS vom ersten Orden, und von den Helden der Singe-CAN – – die die Gnade der großen Herren misbrauchet.

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 6,2, Berlin und New York 1968–1987, S. 572.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch einer critischen Dichtkunst
Gottsched, Johann Ch.; Birke, Joachim; Birke, Brigitte: Ausgewählte Werke. Versuch einer Critischen Dichtkunst / Erster allgemeiner Theil
Gottsched, Johann Ch.; Birke, Joachim; Birke, Brigitte: Ausgewählte Werke. Versuch einer Critischen Dichtkunst / Anderer besonderer Theil.
Gottsched, Johann Ch.; Birke, Joachim; Birke, Brigitte: Ausgewählte Werke. Versuch einer Critischen Dichtkunst / Variantenverzeichnis (Ausgaben Deutscher Literatur Des 15. Bis 18. Jahrhunderts)
Versuch Einer Critischen Dichtkunst: Durchgehends Mit Den Exempeln Unserer Besten Dichter Erläutert (German Edition)

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon