Des II. Abschnitts VIII. Hauptstück.
Von allerhand Arten von Scherzgedichten.

[591] 1. §


Damit es meiner Dichtkunst, soviel möglich ist, an nichts fehle, was zur Poesie gerechnet zu werden pflegt: so muß ich hier noch allerhand Stücke nachholen, die zwar mehrentheils läppisch sind; doch eine Zeitlang ihre Liebhaber gefunden haben. Ich werde sie aber großentheils nur nennen, und nothdürftig beschreiben: weil sich die Mühe nicht verlohnet, sie durch Regeln zu lehren. Ich hebe also von den kürzesten an, und das sind I. die Leberreime. Ich begreife es nicht, wie die Lebern der Hechte zu der Ehre gekommen sind, daß sie bereimet werden müssen, ehe man sie verzehret. Indessen ist es eine alte Sitte, auf diese Art einen Spaß über der Tafel zu machen: und da heißt es zum Exempel: Die Leber ist vom Hecht, und nicht von einem andern Thiere, welches man will; darauf sich aber in der andern Zeile ein gewisser Gedanken reimen muß, der sich zu den gegenwärtigen Umständen schicket. Mehr brauche ich nicht zu sagen: denn es giebt ganze gedruckte Sammlungen davon. II. Kommen die Ge sundheiten in Reimen. Auch diese sind in Deutschland, zumal in Sachsen, sehr gewöhnlich, und in großer Menge im Schwange. Sie bestimmen insgemein in zwey, drey, vier oder sechs Zeilen, wem man Gutes wünschet, oder wer da leben soll. Es wäre nur zu wünschen, daß nicht viel Unflätereyen mit unterliefen, die nur entweder von verderbten Sitten zeugeten, oder dieselben noch zu verderben geschickt wären. Auch davon haben wir gedruckte Sammlungen.[592]

2. §. Die folgenden beyden Arten sind etwas künstlicher, Man nennet sie Ereosticha, oder Chronosticha und Akrosticha. Die ersten halten Jahrzahlen in sich, wenn man alle die römischen Zahlbuchstaben, die darinn vorkommen, zusammen rechnet. Jochim Döbler hat 1685. eine ganze Chronologie der Weltgeschichte in solchen Versen, sowohl lateinisch als deutsch drucken lassen, darinn alle Begebenheiten ihre Zahlen bey sich führen. Z.E. in das Jahr der Geburt Christi bringt er lauter Wörter, die weder ein M. noch D. noch L. noch X. noch V. noch I. haben, und also 0 bedeuten.


Ohn Zepter Gottes Heer hat Gottes Erstgebohrnen.


Und so fährt er fort, ein I. zwey II. drey III. und so weiter in die folgenden Zeilen zu bringen. Z.E. auf König Ottokars völlige Besiegung der heydnischen Preußen, die 1255. geschehen, heißt die Zeile so:


GesChlagen PreVßen steht ganz, hat es BöhMer StärCk.


Ein jeder sieht, was das für ein Zwang ist. Nicht besser ist die andre Art, da man Namen vor die Zeilen eines Gedichtes brämet; so, daß vor jedem Verse ein Buchstab zu stehen kömmt. Günther spottet mit Recht darüber, wenn er schreibt:


Ich flocht auch, wie noch viel, die Namen vor die Lieder,

Und gieng oft um ein A, drey Stunden auf und nieder.


Man sehe auch, wie in den vernünftigen Tadlerinnen diese Kinderey verlachet worden: indem ein poetischer Buhler seine Cynthia durch ein Stoßgebethlein verehret, darinn vorn herab, und ins Kreuz überall CYNTHIA mit lateinischen Buchstaben zu lesen ist. Man hat aber auch andere Erfindungen, davon jede Strophe mit einem besondern Worte anfängt,[593] das zu einem ganzen Spruche gehöret. So ist z.E. das Lied, Befiehl du deine Wege, gemachet; denn die Anfangsworte aller Strophen heißen: Befiehl dem Herrn deine Wege, und hoffe auf ihn; er wirds wohl machen. Man wird aber auch in der letzten Strophe, an dem Mach End, o Herr etc. wohl gewahr werden, wie groß der Zwang dabey zu seyn pflegt.

3. §. Ein neues Paar solcher Künste sollen die Endreime, und Irreime, abgeben. Die erste Art scheint eine Erfindung der Franzosen zu seyn; indem man in ihren besten Dichtern dergleichen Stücke, sonderlich Sonnette findet, die auf vorgeschriebene Reime gemachet werden. Und je seltsamer diese Wörter zusammen gesuchet worden, desto künstlicher ist es, wenn der Dichter ihnen hernach durch seine Einfälle einen ungezwungenen Zusammenhang geben kann. Auch unsere deutschen Dichter haben dergleichen zuweilen, aber weit seltener gemacht; und noch seltener drucken lassen: so daß ich itzo, da ich eins brauche, nicht einmal im Stande bin, eins zu finden. Es ist aber auch nichts daran gelegen: denn es ist eine elende Beschäfftigung, wenn man seine Gedanken auf die Folter spannen muß, um die eigensinnigen Schlußtöne mit anzubringen. Die andere Art ist nicht viel besser. Denn da soll man Verse machen, welche zweyerley Verstand haben können, nachdem man sie liest. Menantes giebt folgendes Exempel:


1. Treu und Liebe soll mich krönen,

3. Doris lebenslang bey dir.

2. Aber nur bey Lisimenen,

4. Geb ich falsches Schmäucheln für.


1. Meine Seele wird entzücket,

3. Wenn ich täglich bey dir bin:

2. So sie jenes Bild erblicket,

4. Sterb ich bald vor Grauen hin.[594]


Hier geben die Strophen einen ganz andern Sinn, wenn man sie nach der Ordnung der Zahlen liest, als wie sie gedruckt stehen. Aber auch ohne mein Erinnern sieht man, was dergleichen Labyrinthe werth sind.

4. §. Es giebt aber auch Wiedertritte, wie ich beym Morhof und Omeis finde. Man möchte sie besser Krebsreime nennen: weil sie erst vor, dann hinter sich gehen; wie folgendes zeigen wird. Morhof im Unterr. von der deutsch. Spr. a.d. 801. S. setzt:


Der Wassergott sah einst den Paris eilen,

Durch seine Fluth, sich mit der Beut zu heilen:

Sprach bey sich selbst: Der meynet sich zu heilen,

Und schlägt sich wund mit seinem Raub und Eilen.


Omeis aber in s. Reim- und Dichtk. a.d. 122. S. schreibt so:


Ich lob ein Buch, und einen Kiel,

Die sind mein Wünschen und mein Ziel.

Ich achte kein Karthaunen Spiel.

Was suchet das Karthaunen-Spiel?

Des Menschen Blut ist nur sein Ziel.

Es tilgt was bauet Buch und Kiel.


Mich dünkt, nach diesen Beyspielen wird sich niemand darein verlieben: und es ist ein Wunder, daß gelehrte Männer sich zu solchen Kinderspielen haben herunter lassen wollen. Zum Gefährten will ich diesen Wiedertritten, den Wiederhall geben; ungeachtet ich schon bey den Liedern davon geredet. Denn man ist damit nicht zufrieden gewesen, daß das Echo am Ende der Strophen antwortete; sondern hat es fast bey allen Reimen haben wollen. Z.E. Omeis spielet so:


Nennest du mich noch den Deinen?

Und begehrest sonsten keinen?

Echo: keinen.[595]

Nun so komm und laß uns scherzen!

Was beliebet deinem Herzen?

Echo: Herzen.

Schau, hier hast du zehen Küsse.

Sind sie sauer oder süße?

Echo: Süße.


herrlich! Aber es kömmt zuweilen noch schöner; z.E. aus dem Zesen:


Wirst du mich trösten, und sonst keine?

Echo: Eine.

Läßt mich in Angst und Ablaß gehn.

Echo: laß gehn.

Wem soll ichs danken mit der Zeit?

Echo: der Zeit.


5. §. Nun kommen die Räthsel und Logogryphen: ein sehr ähnliches Schwesternpaar: womit sich gleichfalls die Franzosen mehr, als die Deutschen die Köpfe zerbrochen haben: welches uns zu keiner Schande gereichet. Zwar Räthsel findet man noch zuweilen: ja es giebt ganze Sammlungen solcher Tändeleyen; darunter zuweilen eins und das andre noch sinnreich genug ist. Z.E. Menantes macht eins, davon die vier ersten und letzten Zeilen diese sind:


Es lebet Mann und Weib, die unzertrennlich sind,

Doch gleichwohl so, daß man, keins bey dem andern findt.

Sie sind einander feind, und können einig leben,

Wenn einem etwas fehlt, das will das andre geben, etc.

So bald der Mann erwacht, muß jene schlafen gehn,

Und gehet er zur Ruh, so pflegt sie aufzustehn.

Man siehet sie sich nie vermischen oder küssen,

Und gleichwohl kann die Welt manch Kind von ihnen wissen.[596]


Dieses bedeutet Tag und Nacht. Man macht auch auf die Buchstaben dergleichen: wie Menantes eins vom R giebt:


Es ist ein Wunderding, das auch GOtt selbst nicht hat etc.


Noch seltsamer ist der Logogryph. Man würde in Deutschland fast kein Exempel davon finden, wenn nicht im 8ten Bande der kritisch. Beyträge auf der 97. S. eine solche Seltenheit zur Beurtheilung wäre eingeschicket worden. Der Herr Verf. hat es ein Worträthsel genennet, und es hebt so an:


Eilf Littern machen mich geehrter Leser aus.

Du könntest ohne mich hier keine Sylbe lesen,

Wo ich dir nicht vorhin in meinem eignen Haus

Was du itzt deutlich siehst mit Fleiß so auserlesen.

Ich bin in dieser Welt noch nicht gar lang bekannt,

Mein Stammherr wird mit Recht von deutschem Blut genannt etc.


Doch es ist mir zu lang. Man mag es am angef. Orte nachsehen. Der Schlüssel dazu ist, Buchdrucker.

6. §. Kettenreime von allerley Art kann man beym Menantes nachsehen; der sie selber nach seiner Art zu spaßen, werth hält, vom Prevost des Parnasses in Ketten und Banden geschlossen, und in ein Loch geworfen zu werden, daraus sie nimmer wieder ans Tagelicht kämen. Ich will sie also auch darinnen stecken lassen: weil sich noch kein gescheider Dichter damit was zu schaffen gemacht hat. Ich schreite also vielmehr zu dem Quodlibet, als einer größern Art. Und deren giebt es zweyerley; davon eine Art ganz verwerflich; die andere aber noch wohl zu dulden ist, wenn sie recht gemachet wird. In der ersten heißt die Regel: je toller und unsinniger, je besser. Man kann leicht dencken, was das für ein Empfehlungsschreiben abgiebt. Gleichwohl[597] hat es Leute gegeben, die ein Vergnügen gefunden haben, ihre Vernunft so zu verläugnen; daß sie dergleichen Zeug gemacht; und andere, die nicht viel klüger gewesen, um sie mit Vergnügen zu lesen. Z.E. ein solch Blümchen ist dieß:


Der Esel hat Pantoffel an,

Kömmt übers Meer geflogen.


Das soll nun spashaft seyn! RISUM TENEATIS AMICI! Die andere Art der Quodlibete ist eine vermischt Satire in Dithyrambischen, d.i. ungebundenen, ungleich langen, bald jambischen, bald trochäischen, bald daktylischen Versen; ohne Ordnung und Verbindung. Menantes giebt ein Paar Exempel von der Art, die nicht schlimm sind, und allerley gute Gedanken in sich halten. Hierinn können zuweilen mit Lachen allerley gute Wahrheiten gesaget werden: wenn der Dichter das UTILE DULCI recht zu vermischen weis. Bey Hochzeiten lassen sich dergleichen Scherzgedichte schon anbringen; wenn sie nur nicht unflätig werden. Denn Zweydeutigkeiten, zumal von schlüpfrigen Dingen, sind eine verächtliche Art des Scherzes, die sich nur für Pritschmeister schicket, die bey Schnepperschießen ihre Zoten auskramen: wie König vormals zu thun pflegte.

7. §. Die Knittelverse sind noch eine andere Gattung der Scherzgedichte: darinn man die einfältige Versart der Alten vor Opitzens Zeiten; z.E. des Hans Sachs, des Burkards Waldis, Ringwalts, in der deutschen Wahrheit, des Froschmäuselers, u.d.m. nachahmet. Dieses nun nach der rechten Art zu thun, ist gewiß eine Kunst: so wie es in Frankreich eine Kunst ist, den Marot, und in England den Hudibras nachzuahmen. Wer diese alten Dichter nicht fleißig gelesen hat, und eine natürliche Geschicklichkeit dazu mitbringet, der wird schwerlich damit zurecht kommen. Geander von der Oberelbe; oder Herr Hofr. Müldener ist ein[598] besonderer Meister in dieser spaßhaften Art, wie man in seinen poetischen Kleinigkeiten sehen kann. Es hat auch vor kurzem ein Ungenannter, ein Handvoll Knittelgedichte herausgegeben, darinn manches ganz hübsch gerathen ist; aber an den ersten Meister langet es nicht. Eine andere, fast ähnliche Art ist, wenn man im Plattdeutschen den Reinecke Fuchs, oder Laurenbergen nachzuahmen sucht: wie in der Poesie der Niedersachsen dergleichen Stücke vorkommen. Nur hat es damit seine Schwierigkeit, wegen der verschiedenen Mundarten des Plattdeutschen; das sich fast alle zehn Meilen merklich ändert; wenigstens in allen großen Städten anders gesprochen wird. Der Pommer spricht anders, als der Mecklenburger, dieser ist vom Hollsteiner, und der vom Bremer und Oldenburger, so wie diese vom Braunschweiger und Westphalen ganz unterschieden. Indessen kann ein jeder an seinem Orte in seiner Mundart spaßen, und bey seinen Landesleuten Beyfall finden.

8. §. Die Wälschen haben eine Art von Versen erfunden, die sie die Macaronische nennen; welche Crescimbeni weitläuftig beschreibet, und in ihre Classen theilet. Einmal vermischet man das Latein mit dem Wälschen, und zweytens die alte Provinzialsprache, mit demselben: entweder so, daß Zeile und Zeile aus einer andern Sprache ist: oder daß wälsche Wörter ins Latein, oder lateinische Wörter ins Wälsche gemenget werden. Weil dieser berühmte und gelehrte Mann sich nicht geschämet, von dergleichen und allen obigen Arten des poetischen Kehrichts zu handeln: so will ich doch zeigen, daß die Deutschen auch in Thorheiten fast eben so groß und sinnreich gewesen, als die Italiäner. Was nun erst die lateinischen Mixturen anlanget; so hat schon vor viertehalb hundert Jahren PETRUS DRESDENSIS dergleichen versuchet, als er das Lied: IN DULCI JUBILO, nun singet und seyd froh etc. gemachet. S. Thomasens DISSERT. von demselben. Er hatte aber schon Vorgänger in Grabschriften gehabt. Z.E. diese ist von 1380:[599]


Hye lyt ein Fürste löbelich,

QUEM VULGUS FLEBILE PLANGIT.

Von Misne Marcgraf Friderich

CUJUS INSIGNIA PANGIT.

CLERUS, CLAUSTRALIS, LAICUS,

Den Fürsten leidlich klagen,

DIVES INOPS, ALTUS, INFIMUS

Fürstlich Werk von ihm sagen etc.


Noch eine andere Art machte man mit halben Zeilen:


Heer Peter Wiese TUMBA REQUIESCIT IN ISTA,

God geev em Spise, CŒLESTEM, QUIQUE LEGIS STA.


Und jener machte eine Beschreibung von Westphalen, in folgenden Zeilen:


HOSPICIUM VILE, grof Brod, dün Beer, lange Myle,

SUNT IN WESTPHALIA, SI NON VIS CREDERE, loop da.


9. §. Unter Neuern hat dergleichen Verse Jakob Balde, der bayerische Jesuit gemacht. Sein Agathyrsus zum Lobe der Magerkeit, hebt so an:


Wolan, so will ich dann,

Links, rechts, Latein u. Teutsch zugleich

Eins singen wie ich kann.

EXSULTA FELIX MACIES,

LÆTARE TORVA FACIES,

Du stehst wohl an eim Mann


Wans Menschen Leib nit wär

IMAGO FŒDI CARCERIS:

So wär feist seyn ein Ehr.[600]

SED VERE CAPTI VIVIMUS,

OMNES ENIM PECCAVIMUS,

Von Adams Zeiten her. u.s.w.


Andere haben nur ins Lateinische deutsche Brocken gemenget, und sie nach römischer Art eingerichtet, z.E.


HEM VOS STUDENTES, OMNES NUNE RUFITE: JUCHHEY!

LUSTIGEOS QUE SIMUL MULTOS ANSTIMMITE LIEDROS,

SCHMAUSITE ET IN TIEFAM SUB SCHMAUSIS SAUFITE NACHTAM:

NON ETENIM VOBIS UNQUAM BONA BIERIA FEHLUNT.


Ein anderer versuchte die daktylischen Verse, in einer mehr deutschen Mischung:


QUICUNQUE kein JOCUM noch Lustigkeit übet,

IS IPSE mag SEMPER seyn heftig betrübet:

VOS FRATRES sa! lasset CORNELIUM fahren,

NAM HICCE kömmt TAMEN bey künftigen Jahren etc.


Und noch ein anderer sang so auf eine Hochzeit:


Herr Baltzer Koch ist guter Art, PATRICIUS, SENATOR,

HUMANUS ehrbar wohlgelahrt, VIRTUTIS ET AMATOR.

Er hält gar nichts von BIBERE, das man itzt treibet sehre,

SED NON VULT VERSUS SCRIBERE, das bringt ihm größre Ehre.


Doch, wie gedacht, das sind Lappereyen, die keinen Platz hier verdienen würden: wenn ich nicht gesehen hätte, daß Crescimbeni dergleichen, in seine große Geschichte der Wälschen Dichtkunst VOL. I.L. VI. c. 5. 6. u. 7. eingerücket hätte. Z.E.


SUSPIRIA IN HAC NOCTE RECESSERUNT

E ANDARO A RITROVAR LA MIA REINA.[601]

IN GREMIUM SUUM SALUTAVERUNT,

DIO VI MANTENGA DONNA PELLEGRINA &C.


imgleichen von dieser Art:


SURGITE SOCII, CHE DEL SONNO SORGERE,

IAM VENIT HORA, CH'EL TERREN RINVERDE,

HIRUNDO CANIT, ET PER QUI SI PERDE,

OPTATA DIES SENZA PIU VI ACCORGERE.


Endlich auch solche:


SQUASSABAT QUONDAM PELAGI FORTUNA MARANUM,

QUI DE SALATA CARNE PIENUS ERAT &C.


10. §. Zum Beschlusse kann man hier auch noch die in lateinischer Sprache gereimten Gedichte herrechnen, deren es in den mittlern Zeiten eine unglaubliche Menge gegeben hat. Leyser in der HISTORIA POETARUM MEDII ÆVI hat sehr viele davon aufbehalten, und man findet sie auch in andern alten Büchern häufig. Ulrich von Hutten hat sie in den EPISTOLIS OBSCURORUM VIRORUM, nebst andern solchen Leckerbissen unwissender Mönche ausgelachet: z.E.


AMICE BONE, QUI NON ES NEBULONE,

FACIS PERGRATUM, QUOD PUERORUM NATUM,

JAM HABES CURAM, ET AD HORUM USURAM,

NUNC OBSCURORUM IN LUCEM DAS VIRORUM,

VENUSTA SCRIPTA, QUÆ DOCENT EX BARALIPTA,

UT EST SCRIBENDUM JAM AD LAUDEM MERENDUM.


Es ist nur zu verwundern, daß auch ernsthafte Leute in neuern Zeiten sich mit dieser wunderlichen Versart, ohne Beobachtung lateinischer Quantitäten haben vermengen wollen; die uns wohl geistliche Gesangbücher in dieselbe übersetzet;[602] oder gar wie Hübner neue Lieder darinn gemachet haben. Was man an den alten Mönchen mit Lachen laufen läßt, die vieleicht nichts bessers machen konnten: das schickt sich für unsere Zeiten nicht: es wäre dann, daß man es auch bloß zum Scherze brauchen wollte: wie Balde gethan. Doch nein, er hat sie auch im Ernste gebraucht; als er ein Trauerlied, tragödienweiß bey nächtlichen Windlichtern zu singen, aufsetzte:


EHEU QUID HOMINES SUMUS

VANESCIMUS SICUTI FUMUS,

VANA, VANA, TERRIGENUM SORS

CUNCTA DISSIPAT IMPROBA MORS.

EXSTINCTA EST LEOPOLDINA

FRUSTRA CLAMAT: O LUCINA!

LACRYMOSA PUERPERÆ MORS,

MISERANDA MULIERUM SORS! &c.


Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 6,2, Berlin und New York 1968–1987, S. 591-603.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch einer critischen Dichtkunst
Gottsched, Johann Ch.; Birke, Joachim; Birke, Brigitte: Ausgewählte Werke. Versuch einer Critischen Dichtkunst / Erster allgemeiner Theil
Gottsched, Johann Ch.; Birke, Joachim; Birke, Brigitte: Ausgewählte Werke. Versuch einer Critischen Dichtkunst / Anderer besonderer Theil.
Gottsched, Johann Ch.; Birke, Joachim; Birke, Brigitte: Ausgewählte Werke. Versuch einer Critischen Dichtkunst / Variantenverzeichnis (Ausgaben Deutscher Literatur Des 15. Bis 18. Jahrhunderts)
Versuch Einer Critischen Dichtkunst: Durchgehends Mit Den Exempeln Unserer Besten Dichter Erläutert (German Edition)

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon