535. Morgenbrodsthal.627

[492] Unweit des Papenberges am Brocken ist das Morgenbrodsthal. Dort soll ein Mönch in einen Stein gehauen sein, man kann ihn aber nicht mehr finden. In diesem Thale haben die Venediger gegessen und aus dem Morgenbrodswasser getrunken. So heißt nämlich die daselbst befindliche Quelle. Vor derselben hat ein fremder Mann gestanden und ein Sieb unter das Wasser gehalten und da sind lauter Perlen darin gewesen, die hat er in einen Holster oder Ranzen gethan und als derselbe voll gewesen, hat er sich die Hände gewaschen und gesprochen:


Im Morgenbrodsthale da wasch' ich mich

Und in Venedigen da drög ich mich.


Das Alles hat ein Mann gesehen und gehört, der dort um den Brocken herum zu Hause gewesen ist. Wie nun der fremde Mann auf einmal verschwindet, so geht der hin, liest die Perlen auf, die er verschüttet hat und liegen lassen, und sagt dann auch:


Im Morgenbrodsthale da wasch ich mich

Und in Venedigen da drög ich mich.


Sobald er das gesprochen hat, ist er auch in einer ganz fremden Stadt gewesen, darüber ist er sehr erschrocken und hat sich nicht zurecht finden können. Nach einer Weile begegnet ihm auf der Straße ein Mann, der fragte ihn, wie er daher käme; da erzählte er ihm Alles und der Mann sprach, es wäre sein Glück, daß er ihm die Wahrheit sage; ob er ihn denn nicht erkenne? er sei jener fremde Mann, den er im Morgenbrodsthale belauscht habe. Da nimmt er ihn mit nach Hause und bringt ihn zu Bette und das Bette ist so kostbar gewesen, daß Knöpfe von Gold und Silber daran gewesen sind, das hat der Mann Alles aus dem Morgenbrodsthale gezogen. Als nun der Härzer am andern Morgen aufsteht, bekommt er Waschwasser und muß sich die Hände waschen, und dabei muß er sagen:


In Venedigen da wasch ich mich

Im Morgenbrodsthale da drög ich mich.


Da ist er auch gleich wieder im Morgenbrodsthale gewesen. Als er aber wieder an den Ort gekommen ist, wo er gewohnt hat, da hat es sich gezeigt, daß er viele, viele Jahre fortgewesen ist und hat doch geglaubt, es sei nur eine einzige Nacht dazwischen gewesen.

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Nach Pröhle S. 127.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 492.
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