579. Evergodesrode, Volkmarstein und der Michaelstein.

[522] Einige hundert Jahre vor der Anlegung des Stiftes Michaelstein soll über demselben in dem rauhen großen Harzwalde auf einer ziemlich hohen Klippe, unter welcher ein schöner heller Brunnen hervorquillt, ein frommer Einsiedler oder Klausner, derer damals sich so viele in den rauhen Gebirgen aufhielten und ein strenges Leben in Fasten und Beten führten, gelebt und daselbst eine kleine Wohn- und Betklause vor sich erbaut, auch mit Namen Volkmar geheißen haben. Weil er nun nach damaliger Zeitbeschaffenheit an solchem Orte gar einen ernsten und stillen Wandel geführt, habe er dadurch[522] verursacht, daß man nicht allein ihn den heil. Volkmar benennet, sondern seiner Heiligkeit sich theilhaftig zu machen, haben sich auch unterschiedene stille Brüder zu ihm begeben und gleiche Lebensart mit ihm angetreten, daß sie nach ihrer damaligen Erkenntniß fleißig in ihren selbstgemachten Klausen und Höhlen gebetet und mit weniger Speise, so ihnen entweder von gutherzigen Leuten zugeschickt worden, oder sie sich selbst in der Wildniß bereitet, sich vergnüget, dabei aber auch einige sonst gelernte Handarbeit zu ihrer bessern Erhaltung getrieben und fürnehmlich in einer nahe bei ihrer Wohnung eröffneten Marmorgruben die schönsten Marmelsteine gebrochen und an Andere überlassen haben. Welcher Steinbruch nachmals eingegangen, daß man wenige Merkmale anitzo davon finden kann. Hierdurch haben diese Brüder und Einsiedler mit ihrem sogenannten heil. Volkmar sowohl Gelegenheit als Mittel bekommen, zu Erweckung ihrer mehrern Andacht eine neue Kapelle oder kleine Kirche an gedachtem Orte bei der Klause dieses ihres Vorgängers, so man noch St. Volkmarstein in dem Harze nennt, aufzuführen, in welcher sie insonderheit, weil sie einige Reliquien von der Jungfrau Maria und deren Begräbniß im Besitz zu haben vermeinten, zu Ehren dieser Mutter Gottes ihr ein Begräbniß oder Grabmal, so das Grab Mariä nachgehends genannt, und in solches die angegebenen Reliquien geleget worden, aufgerichtet und mit vieler schönen Arbeit versehen haben, und soll dieses geschehen sein zur Zeit Kaiser Heinrich des Voglers und seines Sohnes Kaiser Ottonis des Großen, daher des erstern Gemahlin, die Kaiserin Mechtildis, so zur geistlichen Stiftung und Schenkung sehr geneigt, auch damals das herrliche Stift in Quedlinburg, so nur etwa zwei Meilen unter der Michaelsteinischen Gegend liegt, aufrichtete, zu solcher im Harz erbauten Kirchen besagtem Volkmar und seinen Brüdern ihr ohnweit davon gelegenes Gut zu Kepferungsroda, so nachmals von dem gemeinen Manne Kipperode genennet worden, nebst andern Stücken geschenket, welche sämmtlich hierauf Kaiser Otto I. im Jahr 956 dem damals angelegten Stifte incorporirt hat. Man setzt auch ferner hinzu, daß nach dem Absterben des St. Volkmari durch die obgedachten Reliquien bei dem gemeldeten Grabe der Jungfrau Marien sich unterschiedene Wunder, insonderheit durch Curirung vieler Krankheiten, haben spüren lassen, womit die anwesenden Einsiedler und Clerici viel Geldes gelöset und selbige also diesen Ort über zweihundert Jahre bewohnet. Als aber in den folgenden Kriegszeiten durch die Räuber und Buschklepper der Harzwald sehr unsicher gemacht und folglich auch diese wenigen geistlichen Brüder auf dem St. Volkmarstein dadurch höchst beunruhigt, sie aber zum Theil auch müde wurden, in so entlegenem Walde auf hohen rauhen und unfruchtbaren Klippen länger zu wohnen, so wurde zu Anfang des zwölften Seculi Graf Burchard zu Blankenburg bewogen, sein zwischen Blankenburg und Heimburg vor dem Harzwalde gelegenes Gut, Evergodesrode damals genannt, vorgedachten Harz-Einsiedlern von St. Volkmar nicht allein zur sichern Wohnung einzuräumen, sondern ihnen auch daselbst eine Kirche zu ihrem Gottesdienste aufzubauen, welche hernach von dem Bischof zu Halberstadt, gleichwie die erste zu St. Volkmar, in die Ehre des Erzengels Michaelis eingeweihet und der ganze Ort und vorgenanntes Gut, Evergodesrode, Michaelstein oder Michelstein genannt worden. Besagter Graf Burchard von Blankenburg begab sich hierauf gänzlich seiner Regierung und ward ein Conversus bei diesen Brüdern in den[523] Michelsteinischen Kirchen, schenkte aber an solche noch zuvor den ganzen Stoffenberg bei der kleinen Lauenburg, beredete auch die damals lebende Aebtissin in Quedlinburg, Namens Beatrix II., daß sie unterschiedene obberührte, zu ihrem Stifte gehörige Güter an die Kirche zu Michelstein übergab, damit die angelangten Volkmarischen Brüder davon desto austräglicher und besser leben könnten. Besagte Aebtissin erlangte aber auch damit bei dem damaligen Papste Innocentio II., daß sie im Jahr 1139 nächst andern mehrern Stücken die Confirmation über diese Michelsteinischen Güter erhielt, wobei aber zu behalten, daß damals dieses Michelstein noch nicht zu einem ordentlichen Klosterstift für einige Regulir-Mönche angelegt war, sondern es lebten nur einige wenige Irregulir-Geistliche und Einsiedler, so von St. Volkmar gekommen, bei der neugebauten Michaelis-Kirche, welche ihre Wohnungen in den daselbst befindlichen Häusern des gewesenen gräflichen Gutes Evergodesrode genommen habe und den Kirchendienst dabei verrichteten; jedoch ist bald darauf dies Michaelstein zu einem Kloster für Cisterziensermönche aus dem alten Camper-Stifte, so von Auersberg durch die Stifter anhero berufen, angeleget worden.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 522-524.
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