582. Die Sage von der Harburg.680

[528] Etwas südwestlich von dem Schlosse der Grafen zu Stolberg-Wernigerode lag auf einem Berge, dessen Spitze verhältnißmäßig nur einen geringen Raum bietet, die alte Harburg, wahrscheinlich nur aus einem einzigen, großen, geräumigen Thurme bestehend, welchen in sehr frühen Zeiten die Grafen von Wernigerode bewohnten.

Die Zahl ihrer Hausgenossen und Mannen mehrte sich, sehr lebhaft empfand also Graf Botho den Wunsch, eine größere Burg zu besitzen. Oft sprach er darüber mit Mechtildis, seiner tugendsamen, frommen Hausfrau. Eines Abends saßen Beide auf der steinernen Bank vor der Pforte und blickten hinab auf die wahrhaft paradiesische Gegend; endlich ruhte ihr Blick auf dem nordöstlich gelegenen breiten Berge unter ihnen, dessen Gipfel heutigen Tages das Schloß trägt. »Wenn dort unsere Feste stände«, sprach der Graf, »wie erwünscht würde Dir das sein, Mechtildis! Da könnte man anbauen, bequeme Zimmer auf geräumigen Kellergewölben und eine stattliche Kapelle der heil. Jungfrau zu Ehren und starke Mauern mit Zinnen und Brustwehr. Um den ganzen starken Bau sollte dann noch ein Graben breit und tief sich ziehen und neben ihm, zu fast überflüssiger Deckung, ein hoher Wall sich erheben.« Darauf versetzte Mechtildis, er möge doch dem guten Schutzgeist seines Hauses, der von jeher ihm soviel Gutes erwiesen, seinen Wunsch vortragen.[528]

Graf Botho sagte zu sich selbst: »Noch in dieser Nacht thu ich's.« Alles ruhte in der Feste. Die Glocke verkündete die Mitternacht; da wandte sich der Graf in seinem Gebet zuerst an den Herrn des Himmels und der Erde, und an dessen Sohn, den Hochgelobten, und flehte um Schutz für sich und die Seinigen; dann bat er den sein Haus behütenden Geist, ihm den Wunsch seines Herzens zu erfüllen, wenn die Erfüllung zum Heile gereiche. Kaum hatte er sein Gebet vollendet, so zog ein wunderbarer Klang leise tönend durch das Gemach. Der Graf glaubte in demselben eine Gewährung seiner Bitte zu finden und begab sich mit frohem Herzen zur Ruhe.

Als er am andern Morgen erwachte und von seinem Lager sich erhoben hatte, öffnete er, wie er zu thun pflegte, das Fensterlein seines Klosets. Wie erschrack er, als er dicht unter sich und rechts und links einen weiten freien Raum erblickte und die Häuser der Stadt so nahe, daß er sie mit einem Steinwurfe erreichen konnte. Sein Erschrecken verwandelte sich jedoch bald in die innigste Freude und in den herzlichsten Dank gegen den mächtigen wohlwollenden Geist, der so schnell seine Bitte erhört.

Dieser hatte, nachdem der Graf entschlafen war, hinter die Thurmfeste sich begeben und das einzige Wort gesprochen: »Rucke fort!« Leise hatte auf diesen Befehl das ganze gewaltige Gebäude sich in Bewegung gesetzt und von unsichtbaren Händen gehalten dahin sich gestellt, wo ihm der Geist nach dem Wunsche des edlen Grafen seine Stätte angewiesen. Der Letztere rief sogleich seine Hausfrau, daß sie seine Freude theile. Bald bewegte sich nun ein reges thätiges Leben um den Thurm her und allgemach entstand unter den Händen emsiger Werkleute alles das, was der Graf mit seiner Mechtildis besprochen hatte.

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S. Hoffmann, Die Burgen des Harzes S. 130 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 528-529.
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