639. Das blutende Schwert an der Liebfrauenkirche zu Halberstadt.752

[595] Auf dem nackten Berge bei Halberstadt stand im 13. Jahrhundert eine Burg, die einem Raubritter Namens Hug gehörte. Derselbe hatte jedoch eine Gemahlin, die himmelweit von ihm verschieden war; so wild und roh er war, so sanft und gut war sie, aber es konnte deshalb auch nicht fehlen, sie kränkte sich über das gottlose Leben ihres Mannes zu Tode und als sie auf dem Todtenbette lag, da ließ sie ihre einzige Tochter Marie noch zum letzten Mal zu sich rufen und ihren Pflegesohn Teuthold, den ihr Mann einst aus Mitleid zu sich genommen und erzogen hatte, da der Vater desselben in der Acht gestorben war, und nahm ihnen das heilige Versprechen ab, daß sie der Tugend und Sitte treu bleiben und nie vom Pfade des Rechten wanken wollten. Die beiden jungen Leute, welche wie Bruder und Schwester mit einander aufgewachsen waren, liebten sich auf's Zärtlichste, allein erst, als der beste Freund ihres Vaters, der auf der Nachbarburg lebende Ritter von Assen, für seinen Sohn Eberhard um die schöne Marie bei ihrem Vater angehalten hatte, fühlte diese, daß sie zu ihrem Pflegebruder mehr als schwesterliche Zuneigung habe. Freilich hatte aber Letzterer, ein blutarmer Junker, auch nicht die mindeste Aussicht, seine Pflegeschwester je die seine nennen zu dürfen; er beschloß also, in's gelobte Land zu ziehen, um sich im Kampfgewühl Ehre und Reichthum zu erwerben. Zwar ward sein Vorhaben von seinem Pflegevater und Nebenbuhler, der gerade zum Besuche auf dem Schlosse war, mit Hohn und Spott aufgenommen, er ließ sich aber nicht irre machen, sondern zog wirklich in Begleitung eines einzigen Troßbuben nach Palästina. Dort gelang es ihm auch, in mehreren Schlachten Ehre und reiche Beute zu gewinnen, allein die Sehnsucht nach seiner Marie war doch so groß in ihm, daß er die erste Waffenruhe benutzte, um in's Abendland zurückzukehren. Wind und Wogen waren ihm auf seiner Heimreise günstig, bald sah er die Küsten von Europa wieder, allein er rastete nirgends, sondern eilte, so schnell er vermochte, wieder nach Halberstadt. Ehe er jedoch in die Burg seines Pflegevaters zurückkehrte, zog er erst in der Herberge zu Halberstadt, wo er abgetreten war, Erkundigung ein, wie[595] es auf dem Schlosse stehe. Da mußte er jedoch von dem geschwätzigen Wirthe die bittere Nachricht hören, daß der grausame Vater während seiner Abwesenheit seine arme Tochter genöthigt hatte, sich mit dem jungen Eberhard von Assen zu verloben und daß auf den nächsten Tag ihre Trauung angesetzt sei. Da schwur der junge Ritter bei sich einen theuren Eid, nur mit seinem Leben wolle er sich seine Geliebte rauben lassen. Er legte also am andern Tage seine Kreuzfahrer-Rüstung an und begab sich mit geschlossenem Visir vor das Thor der Burg des alten Ritters und forderte Einlaß, unter dem Vorwande, daß er als ein Gast aus weiter Ferne zu dem Hochzeitsbankett komme. Zwar verlangte der alte Ritter erst seinen Namen zu wissen, allein als derselbe sich auf ein Gelübde berief, das ihm verbiete, sich zu erkennen zu geben, so ließ er sich begütigen und bot ihm den Willkommenbecher an. Kaum hatte er denselben geleert, so schwankte seine Geliebte im Brautkleide am Arme ihres aufgezwungenen Bräutigams in den Saal. Als sie den geharnischten Ritter erblickte, stutzte sie zwar, allein da sie ihn an einer Feldbinde, die sie ihm vor Jahren einmal geschenkt hatte, erkannte, riß sie sich von dem Arme Assen's los und warf sich in die Arme ihres Pflegebruders. Nun schlug der Kreuzfahrer sein Visir auf und kühn trat er vor ihren Vater hin und forderte die Jungfrau von ihm zum Weibe, denn nicht Eberhard sei der Mann ihrer Wahl, sondern er sei es. Allein nichts half ihn sein männliches Auftreten, der alte Ritter erklärte, jener habe sein Wort und hieran lasse sich nichts mehr ändern, und forderte den Ritter auf, er möge das Fest nicht weiter stören, sondern die Burg verlassen. Da näherte sich derselbe noch einmal seiner Geliebten und verlangte von ihr das Versprechen ewiger Treue, und als dieselbe ihm solches mit thränenden Augen gegeben, warf er Eberhard den Fehdehandschuh hin und verließ den Bankettsaal und die Burg. Er ging eilenden Schrittes nach der vor Kurzem erst erbauten Liebfrauenkirche und warf sich vor dem Bilde der heil. Mutter Gottes nieder und betete inbrünstig zu ihr, sie möge seine Liebe segnen und schützen. Allein ungesehen von ihm war ihm sein Nebenbuhler nachgeschlichen und während er in innigem Gebet auf den Stufen des Altars lag, stieß ihm dieser von hinten sein Schwert in die Brust und mit dem Gebete, daß die heil. Jungfrau bald seine Marie mit ihm vereinen möge, auf den Lippen, verschied er.

Eberhard eilte, von Gewissensbissen gepeinigt, in das Schloß zurück, wo die Hochzeitsgäste noch beim Bankett saßen und ihn mit Staunen wegen seiner langen Entfernung und verstörten Aussehens empfingen. »Wo ist Teuthold?« fragte ihn Marie mit halblauter Stimme. »Sieh' an diesem Schwerte«, entgegnete ihr Eberhard mit schneidendem Hohnlachen, »das Herzblut Deines Buhlen. Er hat Dich eingeladen ihm bald zu folgen, aber«, fuhr er boshaft fort, »nun erst bist Du wirklich mein!« Bei diesen Worten wollte er sie umarmen, allein Marie stieß ihn von sich und mit den Worten: »Mein Geliebter, ich folge Deiner Ladung! Heilige Jungfrau führe mich zu ihm!« sank sie todt zu Eberhard's Füßen. Da wurde auch der Vater der Jungfrau tief erschüttert und mit zorniger Stimme hieß er den Meuchelmörder zur Stelle sein Schloß verlassen. Der aber ging in Verzweiflung hin in die Kirche zu dem noch auf den Stufen des Altars liegenden Leichnam seines Nebenbuhlers und stieß sich dort das Schwert, an dem das Blut des Gemordeten noch nicht getrocknet war, in die Brust.[596]

Am nächsten Morgen fand man die Leichen der zwei Feinde und ein Mönch, früher selbst ein wackerer Ritter, zog das Schwert aus Eberhard's Brust; hoch hielt er es empor und rief dem erschrockenen Volke zu: »Zum ewigen Warnungszeichen soll dies Schwert vor der Kirche unserer Lieben Frau aufgehängt werden und sich so lange bewegen, bis das der Erde entnommene Blut dem unfruchtbaren Boden seine Nahrung wiedergegeben und des Mörders Seele Erlösung aus der Verdammniß gefunden hat!« Das Volk hörte mit Beben den furchtbaren Spruch, neigte sich und betete still für die Seele des Unglücklichen.

Dies alte entblößte Ritterschwert ist jetzt noch unweit der Thüre der verfallenden Liebfrauenkirche außen an einer kurzen eisernen Kette aufgehängt zu sehen und bewegt sich, auch bei gänzlicher Windstille, immer hin und her. An jedem Jahrestage des Mordes aber sollen von dem Schwerte noch Blutstropfen herabfallen und daher der darunter liegende Erdraum nimmer berasen.

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Nach den Sagen und Geschichten aus der Vorzeit des Harzes S. 30 etc. und Ziehnert Bd. II. S. 132 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 595-597.
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