125. Der Schimmel auf dem Wall zu Potsdam.177

[121] König Friedrich Wilhelm I. hatte auf dem linken Ufer der Havel, von der Mündung der Nuthe bis zur Mitte der langen Brücke einen breiten und tiefen Graben ziehen und längs desselben einen Damm aufwerfen lassen, der an seinem obern Ende durch eine hölzerne Brücke mit dem Kirchhofe der Heiligengeist-Kirche verbunden war. Dieser Kanal, der im Winter von den Fischern frei vom Eise gehalten werden mußte, sollte namentlich dazu dienen, das Desertiren der Soldaten zu verhindern, und darum war er im Osten, Norden und Westen mit einer hohen Mauer umgeben, und längs dem Kiez an der Havel erstreckte sich eine dichte Reihe von Pallisaden. Früher war es nämlich vielen von den Deserteuren gelungen, die Havel zu durchschwimmen und sich nach der damals nur wenige Stunden entfernten sächsischen Grenze zu retten. Da trug es sich zu, daß ein Predigersohn aus Baruth von Werbern in eine Schenke gelockt und im Rausche veranlaßt worden war, Handgeld zu nehmen. Vergeblich war alles Protestiren, als er aus seiner Trunkenheit erwacht war, er mußte mit nach Potsdam und ward hier unter ein Reiterregiment gesteckt. Hier mußte er zwei lange Jahre aushalten, ohne daß es ihm gelang, auch nur einen Schimmer von Hoffnung zu erblicken, sich aus dieser schrecklichen Gefangenschaft zu erlösen. Endlich machte er den Plan, in der nächsten Nacht vom Sonntag zum Montag, wo kein Mondschein war und wo er die Stallwache hatte, durch die Havel zu schwimmen, leise zwischen den Posten auf dem Wall hindurchzukriechen und dann zu suchen, längs dem Ufer der Nuthe fortzukommen, oder sich im Schilf bis zur nächsten Nacht zu verbergen. Am Abend hatte er seinen Kameraden tüchtig zugetrunken und es war ihm gelungen, die Wachtmannschaft im Stalle zu bezechen. Eine Stunde nach Mitternacht machte er sich auf den Weg, nachdem er Gott auf den Knieen um Beistand zu seinem Unternehmen angefleht und von seinem treuen Schimmel, dem Einzigen, von welchem die Trennung schwer wurde, Abschied genommen hatte. Glücklich kam er durch die öden Straßen, unhörbar schwamm er über den Strom, als er hinter sich laut plätschern und schnauben hörte. Als darüber der Ruf der Wachen erscholl, barg er sich ängstlich auf dem Boden, da rauschte es hinter ihm, eine weiße Gestalt erhob sich schüttelnd aus dem Wasser und der arme Flüchtling erkannte seinen Schimmel, der sich losgerissen hatte und ihm nachgeschwommen war. Eilig lief er über die Wiese und den Wall, der Schimmel dicht hinterher; weil aber auf das wiederholte Anrufen der Wachen keine Antwort erfolgte, so schoß man von allen[121] Seiten nach ihm und bald stürzten Mann und Roß von Schüssen durchbohrt zu Boden. Seit dieser Zeit sind nun aber die Posten auf dem Wall in den Nächten, wo kein Mondschein ist, nach Mitternacht oft durch ein Plätschern im Wasser erschreckt worden, dann sahen sie einen Schimmel, der nach der Behauptung Vieler keinen Kopf haben soll, auf der Wiese hin- und herlaufen, ohne daß man seinen Hufschlag vernahm.

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S. Reinhard S. 174 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 121-122.
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