155. Die Perrücke auf dem Elsterneste zu Stendal.212

[143] Im 17. Jahrhundert hat zu Stendal an der St. Petri-Kirche ein Küster gelebt, der sowohl bei seinen Vorgesetzten als der ganzen Bürgerschaft wegen seinem gewissenhaften Lebenswandel und seinem freundlichen gefälligen Wesen sehr beliebt war. Er hatte eine Frau und fünf Kinder, allein sein Einkommen war nur gering und es wollte kaum zureichen, vorzüglich weil seine Frau viel auf Aeußerlichkeiten hielt und sich, ihren Mann und Kinder immer möglichst gut zu kleiden suchte. Nun waren damals gerade die Perrücken aufgekommen und trotz seiner Armuth ließ sie ihrem Manne nicht eher Ruhe, bis er sich auch ein solches Instrument anschaffte, namentlich da auch der Herr Pfarrer sich ein solches schon zugelegt hatte. Diese Perrücke ward nun aber nur dann aufgesetzt, wenn er in Amtsgeschäften thätig oder ein Besuch zu machen war, sonst ruhete sie in der Oberstube an der linken Seite eines Spiegels an dem Fenster, das nach dem Hofe hinausging. Aus diesem Fenster konnte der arme Küster gerade in sein Gärtchen hinter dem Hofe hineinschauen, und in diesem stand mitten unter vielen Obstbäumen ein hoher Erlenbaum, auf dem sich eine Elster ihr Nest gebaut hatte. Im Sommer ließ er nun aber das Fenster dieser Stube, in welcher er sich nach dem Schulehalten zu erholen pflegte, stets offen, daß frische Luft eindringen konnte, und schloß es nur am Abend. Nun trug es sich aber zu, daß eines schönen Tages der Pfarrer den Küster eines Amtsgeschäftes wegen aus der Schulstube holen ließ. Schnell eilte derselbe die Treppe hinauf, um seine Perrücke aufzusetzen, allein wie ward ihm, als er dieselbe nicht an ihrer gewohnten Stelle fand. Natürlich lief Alles im Hause zusammen, um die verlorene zu suchen, allein sie fand sich nirgends und es blieb dem armen Manne nichts übrig als zu einer Nothlüge seine Zuflucht zu nehmen und dem Pastor sagen zu lassen, der Küster sei plötzlich erkrankt, er liege im Bette und könne nicht kommen. Da kam auf einmal sein kleiner Sohn gelaufen und sagte, er und die andern Schulkinder hätten ganz deutlich die Perrücke auf dem Elsterneste liegen sehen. Zwar wollte er diese wunderbare Geschichte erst nicht recht glauben, allein nachdem er sich durch den Augenschein von der Wahrheit überzeugt, holte er schnell eine Leiter herbei und stieg zu dem Elsterneste hinauf, um seine liebe Perrücke wieder zu holen. Dies gelang ihm auch, aber da er einmal oben war, beschloß er, sich auch noch in dem Neste selbst umzusehen und das diebische Thier für seine Frechheit dadurch zu züchtigen, daß er ihre Jungen ausnähme. Wie gedacht so geschehen; er fand darin ein junges, bald flügges Elsterlein, welches er schnell einsteckte, allein wie ward ihm, als er unter demselben einen kostbaren mit Edelsteinen besetzten Ring erblickte. Den nahm er natürlich auch mit, und da, trotzdem daß er ihn viele Male durch den Gassenvoigt ausrufen ließ, um ihn seinem rechtmäßigen Herrn zurückzugeben, sich kein Besitzer vorfand, so behielt und verkaufte er ihn und bekam soviel[143] dafür, daß er mit dem Erlös nicht blos seine Kinder gut erziehen, sondern auch noch jedem derselben bei seiner Verheiratung eine reichliche Mitgift geben konnte.

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Nach Weihe, Bd. II. S. 107 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 143-144.
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