156. Das Gespenst am Sandberge bei Stendal.213

[144] Bald nach Einführung der Reformation in der Altmark lebte in dem Dorfe Borstel bei Stendal ein Pfarrer, mit Namen Wohlgemuth, ein sehr braver Mann, der in Allem dem Mann Gottes Dr. Luther nachzustreben sich bemühte. Der begab sich einst früh am Weihnachtsheiligenabend mit seinem Küster auf den Weg nach Stendal, um daselbst für seine Kinder Honigkuchen und Spielsachen einzukaufen. Beim Weggange aus seinem Hause aber trat eine arme Frau zu ihm und bat ihn, ihrem todtkranken Manne noch heute das Abendmahl zu reichen, doch setzte sie hinzu: es hat damit noch Zeit bis auf den Abend um sieben Uhr. Der Pfarrer sagte zwar, er wolle lieber, damit es nicht etwa zu spät werde, jetzt gleich mit ihr gehen, allein die Frau nahm es nicht an, und so machte sich denn der Pfarrer auf, um in der Stadt seine Geschäfte zu besorgen. Als sie ausgingen, war heiterer Himmel, allein schon als sie in die Stadt kamen, verdüsterte sich derselbe; sie machten ihre Einkäufe und wollten, als es mittlerweile zu schneien anfing, sofort wieder nach Hause eilen, allein ihre Bekannten und Freunde redeten ihnen zu, doch noch zu bleiben, es werde schon wieder aufhören. Allein es hörte nicht auf, der Schnee fiel immer dichter und als die fünfte Stunde herankam, da ließ sich der Pfarrer nicht länger halten, sondern machte sich mit seinem Begleiter trotz des schlimmen Wetters auf den Heimweg. So kamen sie tief im Schnee watend vor dem Sandgarten vorbei bis an den Sandberg und in die Nähe des Hochgerichts. Dort aber war der Himmel rabenschwarz, kein Sternlein ließ sich blicken, so daß sie natürlich sehr bald vom Wege abkamen. Vergebens war all ihr Bemühen sich zurecht zu finden, im Gegentheil sie fühlten, wie sie immer im Kreise herum gingen; zuweilen sahen sie Schatten an sich vorüber huschen, dann kam es ihnen wieder vor, als ob klappernde Gerippe um den Galgen herumtanzten oder der arme Sünder auf dem Rade sich den Kopf auf die Schultern setze und zu ihnen herabsteige. Dabei wüthete der Sturm immer heftiger und die armen Wanderer hatten genug zu thun, nicht selbst noch auseinander zu kommen. Da rief endlich der ehrliche Wohlgemuth: Ach Hilfe, Hilfe, Gott, barmherziger Gott! Und siehe, eine ängstliche Stimme antwortete ihm ebenso: Ach Gott, ach Gott! Vollkommen überzeugt, dies sei die Stimme des auf das Abendmahl lauernden Kranken, verdoppelten sie ihre Anstrengungen vorwärts zu kommen, allein umsonst, ganz außer Athem mußten sie bald wieder Halt machen. Da rief der Pfarrer wieder: Hilfe, Hilfe, ach Gott, ach Gott! Und abermals hallte es zurück: Ach Gott, ach Gott! Und nochmals strengten sie alle ihre Kräfte an, wieder auf den Weg zu kommen, und zwar diesmal nicht umsonst, bald sahen sie den Thurm von Borstel vor sich aufsteigen und erfreut rief der Pfarrer aus: Gott sei gelobt, nun wollen wir gleich mit Kelch und Patene zu unserem Kranken, der so ängstlich nach Gott verlangt hat, denn noch ist's wohl nicht sieben Uhr. Siehe, da schlug die Glocke im Thurme Eins. Dennoch[144] gingen sie in das Haus des Kranken, der aber war längst verschieden und die Wittwe sprach laut weinend: Gestern Abend gegen sieben Uhr ist mein Mann im Herrn entschlafen. Da merkten sie wohl, daß es um die Stunde geschehen sei, in welcher sie in der Nähe des Sandberges vor Stendal die Worte gehört hatten: Ach Gott, ach Gott! Der böse Feind hatte sie dort in der Irre herumgeführt, daß der Pfarrer sein heiliges Amt nicht an dem kranken Manne verrichten und derselbe ohne die letzte Wegzehrung sterben, also zur Hölle fahren solle. Einige Tage darauf ward der Todte unter Sang und Klang in Begleitung der ganzen Gemeinde begraben, der gute Geistliche hielt ihm eine herrliche Standrede, empfahl ihn der Gnade des himmlischen Vaters und bat, derselbe möge ihn auch so zu den Engeln des Lichtes führen und seiner unfreiwilligen Verschuldung wegen nicht dem Teufel verfallen lassen.

Seit jener Zeit ist das Hochgericht dort schon lange nicht mehr vorhanden, der Galgen längst verschwunden, der Sandberg aber, eine von dem kleinen Exercirplatze aus über den Borstelschen Weg, den großen Exercirplatz und die Mühlenberge bis zum Sandgarten sich erstreckende Reihe von Hügeln, die ursprünglich wohl zu Wendengräbern gedient haben mögen, was die dort noch häufig aufgefundenen Urnen mit Knochen und Zierrathen beurkunden, ist immer noch vorhanden. Noch heute sagt der Volksmund, daß wenn ein Mensch zur Nachtzeit bei bösem Wetter an jener Stätte vorbeiwandele, gehe er leicht irre, und rufe er dann: Ach Gott, ach Gott! so hallten diese Worte zurück; das sei die Stimme des kranken Mannes aus Borstel, der sehnsüchtig nach dem Pfarrer verlangte, welcher von Wind und Wetter, Hölle und Teufel behindert wurde, ihm das Sacrament zu reichen.

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Nach Weihe, Bd. II. S. 118 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 144-145.
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