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[674] Als im Jahre 1408 der Münsterische Bischof Otto IV. den Grafen Heinrich von Solms befehdete und ihn genöthigt hatte, nach seiner Feste Ottenstein im Kreise Ahaus zu flüchten, trat in dem Städtchen, welches ganz und gar von dem bischöflichen Heere eingeschlossen war, endlich808 eine große Hungersnoth ein, da keine Zufuhr in den Ort hineinkonnte. Da beschloß der Graf, der das Elend seiner Unterthanen nicht mehr mit ansehen konnte, sich seinem Feinde auszuliefern. Allein er besaß eine junge und schöne Tochter, die er zärtlich liebte und der er die Leiden einer Gefangenschaft ersparen wollte. Deshalb schickte er einen Boten an den Bischof und ließ ihm vorschlagen, er wolle ihm am andern Tage den Platz übergeben, sofern seine Tochter mit ihren Kleinodien frei und sicher abziehen dürfe. Der Bischof aber war ein grimmiger Mann und konnte es nicht erwarten, den Grafen in seine Hände zu bekommen. Er ließ ihm also sagen, wenn um zwei Uhr des Nachmittags die Thore der Feste geöffnet würden, so möge seine Tochter in Gottes Namen mit ihren Schätzen, so viel sie deren tragen könne, von dannen ziehen. Der Herold ging zurück, und als die Glocke zwei Uhr schlug, da harrte der Bischof mit seinem Heere vor dem Thore von Ottenstein und wartete, daß dasselbe geöffnet würde. Schon zog man inwendig die Riegel los, und alle Blicke hefteten sich auf das Thor; siehe, da öffnete es sich und es trat eine zarte schöne Jungfrau, die Tochter des Grafen Heinrich, hervor, welche ihren Vater, den alten Grafen, auf den Schultern hatte und mit der linken Hand in der Schürze ihre Edelsteine und Goldgeschirre trug. Da erstaunte das Kriegsvolk, und selbst den kinderlosen Bischof bewegte das Beispiel einer solchen kindlichen Liebe. Er ließ seinen Grimm fahren, segnete das Mädchen und gab dem alten Grafen den Kuß des Friedens. Von einem gerade zu Ottenstein wohnenden Maler wurde diese Begebenheit in einem Gemälde dargestellt, welches man heute noch in der dasigen Kirche sehen kann.
Ausgewählte Ausgaben von
Sagenbuch des Preußischen Staats
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