793. Die Lilie von Corvei.915

[747] In der ehemaligen Abtei Corvei an der Weser, die jetzt ein Schloß des Fürsten Hohenlohe-Bartenstein-Schillingsfürst im Regierungsbezirk Minden in Westphalen ist, wurde, wenn einer der Brüder sterben sollte, dessen Tod vorher angezeigt, doch auf eine andere Weise als in Merseburg (s. oben S. 331). An einem ehernen Kranze im Chor hing eine Lilie und diese wurde auf wunderbare Weise im Stuhle desjenigen Bruders gefunden, der in drei Tagen sterben sollte, und diese Todesandeutungen sollen Jahrhunderte lang bemerkt worden sein. Einstmals fand diese Todeslilie ein junger Ordensbruder auf seinem Sitze, der keine Lust zu sterben hatte und legte sie auf den Stuhl eines alten Geistlichen. Dieser erschrack über den Anblick und den widrigen Geruch der Todtenblume und ward gefährlich krank, allein auch bald wieder gesund und der junge Bruder starb darum doch am dritten Tage eines schnellen Todes.

Einmal war aber ein sehr strenger Abt zu Corvei, der den früher verwöhnten Brüdern auch nicht das Geringste nachsah. Mancher von ihnen, der sonst Tage lang im Sollinge sich herumgetrieben hatte auf der Fährte der Hirsche und wilden Schweine, durfte jetzt die enge Zelle nicht verlassen und mußte seine Zeit dem Abschreiben alter Handschriften widmen und Mancher, der auf den Bauerhöfen der Nachbarschaft wohl allzubekannt war, mußte jetzt Tag und Nacht in den bestaubten Chorstühlen sitzen oder in endlosen Kasteiungen seinen widerspenstigen Leib züchtigen. So kam die Reihe an Alle und es ist kein Zweifel, daß Klagen und Verwünschungen in hohem Maße laut wurden gegen den strengen Zeloten. Indeß wagte Keiner sich zu widersetzen und selbst der munterste Lebemann aus der Zahl der Mönche des Klosters, Theobald geheißen, konnte nicht anders, er mußte sich den strengen Pönitenzen und Fasten fügen, die ihm der Abt nicht eben selten auferlegte. Indeß beschloß er sich zu rächen. An einem schönen Sonntagsmorgen eilte er, noch ehe die Sterne erblichen, hinab in den Klostergarten, pflückte eine weiße Lilie und legte sie in der Kirche heimlich auf das Pult des Abts. Als dieser nun zum Frühgottesdienst hereintrat, erschreckte ihn der Anblick der Todtenblume so gewaltig, daß er zu Boden stürzte und den Geist aufgab. Wie sich nun die Brüder von ihrem ersten Schrecken erholt hatten, schritten sie gleich in den nächsten Tagen zu der Wahl eines neuen Abtes. Um aber einen recht gelinden Obern zu bekommen, wählten sie den Bruder Theobald, von dessen finsterer That Niemand etwas ahnte. Theobald aber ward von Tag zu Tag mürrischer und finsterer, denn des Abtes[747] bleiche Gestalt wich nicht von seinen Blicken. Wo er ging und stand, umschwebte ihn der schwankende Schatten desselben und ließ ihn nicht Ruhe und Frieden mehr finden. Es half ihm nichts, daß er zum Weine seine Zuflucht nahm, auf dem Boden des geleerten Bechers grinzte ihn die Larve seines Vorgängers boshaft an. Dadurch ward er aber zu halbem Wahnsinne getrieben und zuletzt so übelgelaunt und böse, daß seine Mitbrüder sich oft den alten Abt zurückwünschten, unter dem sie es doch so schlimm nicht gehabt hatten. Endlich als er seines Elends gar nicht mehr Rath wußte, ist er stillschweigend auf den höchsten Thurm des Corveier Domes gestiegen und hat sich von da herabgestürzt, so daß seine gebrochenen Glieder am Boden herumlagen. Er war der erste in Corvei, der ohne die weiße Lilie gestorben ist und von der Zeit an hat der Tod die Brüder geholt wie andere Leute und Keinem hat er die weissagende Blume mehr gebracht.916

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S. Annales Corbeienses bei Leibnitz, Script. Brunsvic. T. II. p. 306. Anno MCXII. Francisci höllischer Proteus S. 1056 etc. Zu Lübeck vertrat die Stelle der Lilie eine Rose (s. Daumer, Geheimnisse des christlichen Alterthums Bd. II. S. 38 etc.). S.a. Grimm, Deutsche Sagen Bd. I. S. 351 und Altdeutsche Wälder Bd. II. S. 185-187. Das malerische und romantische Westphalen S. 78 etc.

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S. Seiler S. 56 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 747-748.
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