743. Die Jungfrauen auf der Schalksburg.

[668] In der Nähe der Würtembergischen Oberamtsstadt Balingen liegen auf hohem Felsen die Trümmer der alten Schalksburg, einst der Sitz der Grafen von Hohenzollern-Schalksburg. Auf diesem Felsen ist es nicht geheuer, denn dort soll eine weiße Jungfrau sich zuweilen sehen lassen. Einst ging eine arme Frau im Spätherbste mit ihrem kleinen Sohne auf den Schloßberg, um dürres Holz für den Winter zu sammeln. Sie verlor ihren Knaben aus den Augen, alles Rufen war vergebens, er kehrte nicht wieder, endlich kam er voller Freude durch die Gebüsche herabgelaufen und erzählte, er habe oben aus der Pforte des alten Schlosses ein wunderschönes Mädchen treten sehen, dasselbe habe ihn in ihre Arme geschlossen, einen Kranz von frischem Moose aufgesetzt und diese Rose, die er in der Hand trug, gegeben. Dieselbe hatte einen wunderbaren Glanz und duftete so herrlich, wie die Frau noch keine andere gesehen hatte. Am dritten Tage aber welkte sie und mit ihr starb auch der Knabe. Die arme Frau begrub ihr Kind sammt der Rose in einem einsamen Grabe, und als der Winter vergangen war und der Frühling wieder kam, da sproßte aus dem Grabe ein weißer Rosenstrauch hervor.

Ein anderes Mal stiegen einige junge Burschen früh Morgens hinauf nach den Trümmern der Schalksburg, da erblickten sie zwei wunderliebliche Jungfrauen, weiße Schleier in den Locken, um das Gemäuer wandeln. Auf ihre Frage, wer sie seien, antworteten sie, sie seien zwei ihrer einst begangenen Sünden wegen hierher gebannte Geister, verurtheilt die im Schooße des Berges begrabenen Schätze zu hüten; erlöst könnten sie werden, wenn die Jünglinge einen im Thale mitten unter hohen Tannen stehenden Ahornbaum fällen, aus seinem Stamme eine Wiege höhlen und in diese ein neugetauftes Kind betten würden. Damit verschwanden sie, die jungen Burschen aber eilten den steilen Felsenpfad zum Walde hinab, fanden ohne Mühe den Baum, fällten ihn, ließen den Stamm zerschneiden und eine Wiege daraus bauen. Einst, als die Dämmerung heranbrach, legten sie in aller Stille ein Kind hinein und plötzlich sahen sie die Trümmer der Schalksburg in Feuerstrahlen erglühen und zwei Jungfrauengestalten von der Burg hinauf gen Himmel schweben.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 668.
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