769. Der kluge Reucker.

[686] (S.v. Lersner S. 491 etc.)


Es hat einmal in der Nähe von Frankfurt ein gewisser Reucker gelebt, der hatte eine alte Mutter. Eines Tages hat er die Frechheit gehabt, dieselbe auf einen spitzen Pfahl zu setzen und so herumzutragen. Als dies bekannt geworden, hat man ihn sofort eingezogen und ins Gefängniß gesetzt, lange aber hat man sich nicht darüber einigen können, welche Strafe ihm für diese Verhöhnung seiner Mutter gebühre. Endlich hat man entschieden, er solle mit dem Tode bestraft werden, allein die Art der Todesstrafe solle er sich selbst wählen dürfen. Damit er nun aber das Urtheil durch Verschieben seiner Erklärung nicht aufhalten möge, ist ihm bis dahin Speise und Trank entzogen worden. Er hat sich also nur eine kurze Zeit zur Ueberlegung ausgebeten und dann verlangt, vor die Richter gebracht zu werden um seine getroffene Wahl zu verkündigen. Er sprach: »Weil mir gestattet ist, mir meine Todesart selbst zu wählen, so will ich, daß alle meine Kleider, die ich jetzt anhabe, auf Stangen gesteckt und vor mir her nach Frankfurt auf die Sachsenhäuser Brücke getragen werden, dort soll ein Herold dem Volke mit lauter Stimme verkünden, weshalb ich den Tod verdient habe; wenn nun das Volk bei einer so traurigen Geschichte nicht wie gewöhnlich in seine schlechten Witze und Späße verfällt, so sollen zuerst meine Kleider und dann ich selbst in den Fluß geworfen werden. Wenn sie aber meine Handlung nicht der Thränen, sondern des Belachens würdig erklärt haben sollten, dann will ich, daß man mich frei und ledig ausgehen läßt.« Da die Richter bei dieser Rede selbst sich beinahe des Lachens nicht enthalten konnten, so gaben sie ihre Einwilligung. Am andern Morgen wird der Delinquent nun aber in Begleitung einer großen Volksmenge nach Frankfurt auf die Brücke geführt, gleichsam wie Siegeszeichen werden aber seine Kleider auf einen Pfahl gesteckt, gerade wie er es mit seiner Mutter gemacht hatte, vor ihm hergetragen und er selbst marschirte halbnackt von dem Schinder geführt hinterdrein. Eine Menge Menschen folgten ihm durch dieses sonderbare Schauspiel angezogen, und als man endlich bis mitten auf die Brücke gekommen war, bat er, man möge nun das, was er an seiner Mutter verübt, mit der Todesart, welche er sich gewählt, dem Volke durch den Herold mittheilen. Als nun solches geschehen war, ist von allen Seiten ein so heftiges Gelächter entstanden, daß auch nicht ein Einziger unter allen Anwesenden dabei kalt und ruhig blieb, ja unzählige Späße sind laut über seine That gemacht worden. Deshalb sind nun zwar seine Kleider mit dem Pfahle ins Wasser geworfen worden und davongeschwommen, er selbst aber ist unversehrt entlassen worden. Zum Gedächtniß hieran soll nun bis zum Jahre 1670, wo der Pfarrer Sondershausen diese Sitte abbrachte, in dem nahe bei Frankfurt gelegenen Dorfe Bornheim alljährlich um Lichtmeß ein altes Kleid in den Main geworfen und dazu von den Kindern folgender Reim gesungen worden sein:


Reucker Uder

Schlug seine Mutter,

Schlug ihr Arm und Bein entzwey

Daß sie Mordio schrey.


Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 686-687.
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