1104. Die gläserne Kutsche.

[897] (S. Seifart Th. II. S. 29.)


Es ist noch heutzutage kein Ort in der Stadt Hildesheim, wo es Nachts so still und grausig wäre, als bei der Pagels- oder St. Pauli-Kirche, in frühern Zeiten ist aber dies noch viel schlimmer gewesen, denn damals war dicht bei der Kirche, wo jetzt Göttings Garten ist, der Kirchhof, und dicht am Kirchhofe hin, gerade dem Kapuzinerkloster gegenüber, mußte man durch die enge düstere Petersilienstraße. Jede Nacht um die zwölfte Stunde kam nun aber eine gläserne Kutsche vom Pfaffenstiege über den Bohlweg durch die Kreuzstraße an dem alten Pulverthurm vorbei und hielt vor der Petersilienstraße still. Nun stiegen aber aus der Kutsche ganz still und stumm mehrere Leute in ganz altfränkischer Tracht und setzten auf die niedrige Kirchhofsmauer eine Mulde, in welcher ein blutendes Kind lag. Ein Messer stack dem Kinde aufrecht in der Brust. Im Umsehen stand auch ein Galgen da. Die stummen Leute ergriffen nun eine händeringende Frau, welche mit in der Kutsche gekommen war, und hingen sie an dem Galgen, gerade über der Mulde, in welcher das Kind lag, auf. Sobald dies geschehen war, stiegen die Leute wieder ein, die Kutsche fuhr davon, und wie das Rollen der Räder in der Ferne nach und nach verhallte, so zerfloß auch der Galgen und verschwand von der Mauer die Mulde.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 897-898.
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