1142. Der Vampyr im Wendlande.

[924] (S. Helms im Hannöv. Mag. 1831 Nr. 57. 58 u. im Neuen Vaterl. Archiv Bd. XXI. S. 307 etc.)


Im ganzen Wendlande glaubt man an Vampyre. Man sagt, sie erständen auf folgende Weise. Wenn nämlich ein Kind nach Entwöhnung von der Mutterbrust nach den ersten 24 Stunden (denn diese werden nicht mitgerechnet) wieder die Brust erhalte, so werde es einst ein Vampyr, sobald es gestorben sei. Verstorbene Kinder werden jedoch keine Vampyre, sondern nur solche Kinder, welche zweimal entwöhnt ein kräftiges Alter erreicht haben. Darum heißen die Vampyre hier auch Dubbelsüger (Doppelsauger) und die Mütter sind sehr vorsichtig, durch zweimaliges Entwöhnen keinen jungen Vampyr an ihrer Brust für ihre Familie aufzuziehen. Ist nun aber ein solcher gestorben, so behält er eine Art von Halbleben im Grabe, besonders kann sein Kopf und sein Mund sich bewegen und Töne ausstoßen. Er geht jedoch nicht aus dem Grabe hervor und saugt seine Angehörigen an, sondern mit seinem lebendigen Munde saugt er im Sarge sich selbst auf der Brust an und wenn er die Haut und die fleischigen Theile aufgesogen hat, dann[924] wirkt dies durch Sympathie auf seine Angehörigen ein, es wird ihnen alle Lebenskraft ausgesogen, sie werden blaß, mager, kraftlos und müssen noch, ehe ein Jahr vergeht, dem Doppelsauger ins Grab folgen. Dieser fährt nun so fort, auch den zweiten in der Familie auszusaugen, bis er alle zu sich geholt hat und zuletzt, wenn man ihn ungestört gewähren läßt, die ganze Familie ausstirbt. Auf Andere, als seine nächsten Anverwandten, besonders Bruder, Schwestern und Kinder, wirkt er aber nicht ein, auch wird ein durch einen Doppelsauger Getödteter nicht wieder zum Vampyr, wenn er nicht schon durch doppelte Entwöhnung, was man freilich nie recht sicher wissen kann, ein natürlicher Doppelsauger ist. Als Mittel gegen das tödtliche Einwirken dieser Doppelsauger gilt aber erstlich das Bret, dann der Kreuzdreier und endlich der Durchgang unter der Schwelle. Die Angehörigen lassen nämlich ein Bret so aussägen, daß es die Brust bedeckt und auch unter'm Kinn anschließt, und dem Todten auf die Brust befestigen, so daß es ihm also unmöglich wird, im Sarge selbst die Brust anzusaugen. Der silberne Kreuzdreier (Krütz-Witten), mit der Weltkugel und dem Kreuze darauf, wird dem Todten in den Mund gelegt, weil diese mit dem Kreuze bezeichnete, gleichsam heilige Münze das Leben des saugenden Mundes verhindert. Diese Münzen sind aber sehr selten geworden und wenn eine Familie sie besitzt, werden sie für den Fall der Noth sorgfältig aufbewahrt. Der Durchgang unter der Schwelle endlich bezieht sich wahrscheinlich darauf, daß Geister und Gespenster da wo sie hereingeschlüpft sind, auch wieder heraus müssen, also auch die nach dem Tode Wiedererscheinenden nur da wieder hinein können, wo sie hinausgekommen sind, sind sie nun unter der Schwelle zum Hause hinausgetragen worden, so können sie nicht über die Schwelle wieder zurückkehren. Die große Thür der wendischen Bauerhäuser hat nun aber eine bewegliche nur eingefügte Schwelle, welche weggenommen wird, wenn der Erntewagen das Getreide auf die Hausflur (Diele) fährt. Vermuthet man nun, daß ein Gestorbener zweimal entwöhnt ist, so treten zwei Personen hinzu, heben, so hoch sie nur können, die Schwelle empor und der Sarg und das ganze Leichengefolge muß von der Hausflur unter der Schwelle durchziehen.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 924-925.
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