1182. Der Wehrwolf.

[951] (S. Firmenich Th. I. S. 212.)


Zu Sittensen im Amte Zeven stand vor Zeiten ein Haus, das ganz verfallen war und wo Niemand wohnte. In dieses Haus haben aber die Leute oft einen Wolf hineinlaufen sehen, dieser war ein grausiges Thier, welches den Bauern die Schafe wegfraß. Kein Mensch wußte aber, was das eigentlich für ein Thier war, denn ein ordentlicher Wolf war es nicht, und der Schulmeister sagte, es sei ein Wehrwolf, das heißt ein Mensch, der sich in einen Wolf verwandeln könne. Nun ging aber das Gerücht durch das ganze Land, daß hier ein Wehrwolf sei, und auch der König hörte davon, und eines schönen Tages kam dieser selbst und wollte die Sache untersuchen. Er kam aber incognito in das Dorf und kein Mensch wußte, daß es der König war, sie dachten aber, es sei der Amtmann oder sonst ein großer Herr. Nun gingen sie alle nach dem alten Hause, der König, der Pastor, der Küster, der Bürgermeister und alle Leute aus dem ganzen Dorfe. Das Haus war aber rundum fest zu, sie wollten also die große Thüre einschlagen, als sie daneben an der Seite eine kleine Klappe erblickten, durch welche zur Noth ein Mensch durchkriechen konnte. Keiner von ihnen aber hatte das Herz hineinzukriechen, bis endlich ein armer Häusler für ein Trinkgeld das Wagestück unternahm. Als dieser einmal drinnen war, machte er die Seitenthüre auf und nun gingen sie alle ins Haus hinein. Sie durchsuchten dasselbe nun von oben bis unten, konnten aber nichts finden, was ihnen verdächtig vorkam. Zuletzt kamen sie aber in eine kleine Stube, in welcher hinter dem Ofen eine alte Faulbank stand, hier meinten sie, müsse der Wehrwolf stecken allein sie sahen ihn doch nicht. Nun rissen sie die Faulbank weg, da gewahrten sie in der Ecke einen alten Schrank, welcher verschlossen war, sie brachen denselben auf, aber da war nichts darin als ein alter lederner Riemen mit eisernen Spangen. Da sagte der Bürgermeister: »Ich habe den Wolf einmal gesehen, er hatte einen ledernen Riemen um den Leib, ich glaube,[951] wenn man den Riemen umthut, wird man ein Wolf, und wenn man ihn wieder losmacht, wird man wieder ein Mensch. Wir wollen es einmal versuchen!« Als aber Niemand da war, der sich den Riemen ummachen wollte, da sagte der König: »Ich will es einmal versuchen, wenn Ihr mir versprechen wollt, daß Ihr mir den Riemen wieder losschnallt, wenn ich ein Wolf werde und es selbst nicht kann.« – »Ja wohl«, sagten sie Alle und gaben dem König die Hand darauf. Nun that der König den Riemen um und mit einem Male ward er ein grausiger Wolf. Den Leuten wurde Angst und bange und sie flüchteten sich alle auf den Oberboden und ließen den Wolf Wolf sein. Der Wolf aber lief wie ein Besessener im ganzen Hause herum und machte schrecklich viel Lärm und brüllte, daß das ganze Haus erdröhnte, bis er am Ende vor die Klappe an der Seitenthüre kam, da sprang er hindurch und lief hinaus in die Heide. Der Häusler aber, der zuerst ins Haus gegangen war, war ein dreister und wagehalsiger Mensch und konnte gut schießen. Er sagte also zu den Andern: »Ich will einmal versuchen, ob ich den Wolf nicht treffen kann«, nahm seine Büchse und ging hinaus. Acht Tage lang hatte er ihn nun schon gesucht, da ward er den Wolf endlich gewahr, als er eben ein Schaf zerrissen hatte und es auffraß. Der Häusler legte an und schoß, und auf einmal stand der König wieder auf dem Platze, er hatte nämlich den Riemen just über dem Bauche durchschossen, so daß er auseinander gegangen war. Als nun der König wieder ins Dorf gekommen, sagte er: »Kinder, Ihr mögt es glauben oder nicht, ich bin der König, und der Häusler, der mich errettet hat, soll Alles haben, was er will!« Da sagte der Häusler: »Wenn Ihr der König seid, so gehört Euch ja das ganze Land, viel Geschwätz füllt keinen Sack, da könnt Ihr mir wohl etwas davon abgeben.« – »Ja«, sagte der König, »wenn Du damit zufrieden bist, so sollst Du das Gut haben, den Königshof, mit Allem was darauf ist.« Der Königshof war aber eine Domäne, die wohl zweihunderttausend Thaler werth war. »Ne«, sagte der Häusler, »Ihr habt mich nicht recht verstanden, ich will gern blos ein bischen Land haben, wo ich ein Häuschen bauen, Kartoffeln pflanzen und Roggen und Buchweizen säen kann!« – »Wenn es nicht mehr ist«, sagte der König, »das sollst Du haben, Du kannst hier von meinem Holze, wo die Bäume abgeschlagen sind, so viel nehmen als Du willst!« Nun gab der König den Leuten noch etwas zum Besten, Branntwein und Bier, so viel sie trinken wollten und kehrte nach der Stadt zurück. Der Häusler aber ging mit seinen Söhnen hinaus und sie besahen das Land, was sie haben wollten. Als sie nun so gingen, kamen sie an einen dicken hohlen Baum. »Warte«, sagte der Alte zu seinem Sohne, »ich will mich in den hohlen Baum setzen und laut blöcken, so weit als Du dies hören kannst, soll unser Land reichen!« Der Alte setzte sich in den Baum, der Sohn nahm kleine Pfähle, und so weit als er die Stimme des Alten hören konnte, schlug er die Pfähle in die Erde, dann machten sie einen Zaun darum und bauten sich ihr Haus mitten hinein.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 951-952.
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