1189. Das Höxterthal.

[960] (S. Thüringen u.d. Harz Th. III. S. 281.)


In der Nähe von Harzburg befindet sich das einige Stunden weit ins Gebirge sich hineinziehende Sieberthal, ganz von Waldgruppen und Felsenklippen eingeschlossen und von dem hellen Bergflüßchen Sieber durchströmt. Wo die riesigen Felsenarme des sogenannten großen Knollens nach dem Abhange der rauschenden Sieber hin vielfältige labyrinthische Gänge umschließen, ist ein schmales Thal, das Höxterthal, an dessen Seiten hohe mit dunkeln, thurmhohen Tannen bewachsene Felsenwände aufsteigen. Wie in einem Urwalde sind die Bäume hier in einander verschlungen, knorrige Wurzeln laufen wie Schlangen über den Weg und nur der wilde Keiler, der leichtfüßige Hirsch und das schlanke Reh treten hier zuweilen aus dem Dickicht, um von dem Wasser des Bächleins, welches das wilde Thal durchmurmelt, zu trinken. In diesem Thale stand früher eine Hütte, welche sich vor langen Jahren ein junger Rittersmann gebaut hatte, der dorthin aus seiner Heimath vertrieben mit seiner jungen Gattin geflohen war. Diese wilde Gebirgsgegend aber paßte ganz zu der Stimmung, in welche ihn das Mißgeschick und die Treulosigkeit seiner Freunde und Angehörigen versetzt hatte. Er hatte von dem Besitzer der benachbarten Ritterburg die Erlaubniß erhalten, sich von dem Wilde des Forstes zu nähren, dafür aber denselben zu beaufsichtigen. Nun hatte nicht weit von seiner Hütte, am Eingange des Höxterthales, da wo sich das Gebirge an die steile Wand anschließt, ein herrlicher Hirsch seinen Stand. Bisher aber waren alle seine Bemühungen demselben beizukommen vergeblich gewesen. Einst lag der Ritter abermals mit der Armbrust im Hinterhalt und lauerte dem Thiere auf, da rauschten die Büsche, das trockene Reisig knisterte, die Zweige schwankten und als es mit leisem Geräusch auf dem trockenen Laube heranschlich, da konnte sich der hitzige Jäger nicht mehr halten, die Sehne schwirrte, der Pfeil flog und die Gattin des unglücklichen Jägers lag bleich und unbeweglich auf dem harten Felsgestein. In wilder Verzweiflung warf der Erschrockene das Geschoß weit von sich und flog zu der theuern Gattin, die er von seiner eigenen Hand gemordet glaubte. Allein wie groß war seine Freude, als sie die Augen aufschlug und ihm tröstend zurief, sie sei unversehrt! Neben ihr aber lag vom scharfen Pfeil durchbohrt eine große Eule, welche von den Schritten der ihren Gatten suchenden Frau aus ihrem Versteck aufgescheucht worden war. Die beiden Glücklichen kehrten in ihre Hütte zurück; das Schicksal aber schien müde geworden zu sein, sie zu verfolgen, der Ritter erhielt die Nachricht, daß er in seine Heimath zurückkehren könne, die Hütte aber ist stehen geblieben und immer wieder erneuert worden.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 960-961.
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