1204. Die Unterirdischen auf der Burg Plesse.

[974] (S. Wunderbare Begebenheit, welche sich mit einem Göttingischen Studenten auf dem alten Schlosse Plesse zugetragen hat. Göttingen 1770 in 8°. und daraus Gottschalck, Ritterb. Bd. I. S. 218 etc.)


Im Herbste des Jahres 1743 besuchte ein Student aus Göttingen, dessen Namen unbekannt geblieben ist, die Ruinen der alten Burg Plesse, welche nur anderthalb Stunden von der Universitätsstadt auf dem sogenannten Plesserberge liegt. Er war allein, und als er sich genug umgesehen hatte, warf er sich auf den Rasen hin und las. Zwei bis drei Stunden mochte er gelesen haben, als er mit einem Male einen ganz überaus angenehmen Geruch verspürte, den er mit keinem ihm bekannten Geruche vergleichen konnte. Verwundert sah er sich überall um, sann nach, woher der liebliche Duft wohl kommen möchte, fühlte aber zugleich eine unbezwingbare Neigung zum Schlafe, dem er auch unterlag. Aus diesem erweckte ihn nach einigen Stunden ein heftiger Donnerschlag. Er richtete sich erschrocken auf, fühlte starken Regen, sah aber vor dicker Finsterniß nicht seine Hand. Ehe er seine Gedanken sammeln konnte, glaubte er blind geworden zu sein; aber ein Blitz überzeugte ihn vom Gegentheil und ließ ihn auch sehen, daß er sich noch unter den Ruinen der Plesse befände, wo er an sieben Stunden lang geschlafen hatte. Das Wetter war entsetzlich, es stürmte, regnete und ein unaufhörlicher Donner rollte über dem Haupte des armen Menschen, der nicht wußte, wo aus noch ein. Damals war indeß noch mehr Gottesfurcht unter den Studenten als jetzt, der Göttinger Musensohn warf sich daher in seiner Angst nieder, betete und flehte um Hilfe und Rettung. Sie erfolgte. Denn als er sich wieder aufgerichtet hatte, sah er ein Licht auf sich zukommen, das der Sturm bei aller seiner Heftigkeit nicht auslöschen konnte, und das ein kleines altes Männchen mit einem langen Barte trug. Diese Erscheinung erregte doch bei dem durchnäßten Studenten einige Furcht, allein das Männchen redete ihm liebevoll zu, er möge sich nicht fürchten. Gott, dessen Hilfe er angefleht, habe ihm durch seinen Großvater anbefehlen lassen, aus der Erde heraufzusteigen, um ihn in Sicherheit zu bringen, er möge ihm daher nur folgen. Sie gingen nach dem Brunnen, der noch jetzt vorhanden, aber durch das beständige Hineinwerfen von Steinen beinahe ausgefüllt ist, obwohl er noch zu Anfange dieses Jahrhunderts so tief war, daß, wenn man einen Stein hineinwarf,[974] dieser durch das Anschlagen an die Wände desselben ein starkes Getöse verursachte, bevor er auf den Grund gelangte. In diesem Brunnen befand sich damals ein Gerüst, auf das sie traten. Sanft senkte es sich hinab in den Brunnen bis auf den Spiegel des Wassers, wo es still stand. Jetzt fragte ihn das Männchen, »ob er hier bis gegen Anbruch des Tages verweilen oder ihm in das Innere der Erde folgen und da die Werke des Schöpfers bewundern wolle?« Der Student wählte das Letztere. »Aber,« fragte er seinen Begleiter, »wie habe ich mich zu benehmen, wenn Du mich zu andern Geschöpfen führst?« – »Ich will Dir schon von Zeit zu Zeit sagen, was Du zu thun hast, nur sei nicht vorwitzig und frage nicht nach Allem, rede überhaupt wenig! Du kommst zu einem Volke, welches wegen seiner Verschwiegenheit das stille heißt, das gut und dienstfertig gegen die Menschen ist, das aber, wenn man es beleidigt, das Vieh dafür plagt. Eigentlich haben sie gar keine Gemeinschaft mit den Menschen auf der Erde, da sie ein unterirdisches Geschlecht sind, und wenn sie Verrichtungen auf der Oberwelt haben, geschieht dies immer nur des Nachts.« Der Student folgte schweigend seinem Führer durch einen Seitengang, der für diesen gerade recht, für ihn aber so niedrig war, daß er immer gebückt gehen mußte. Diese beschwerliche Stellung und eine dumpfige feuchte Luft hatten ihn nach einer halben Stunde so abgemattet, daß er nahe daran war ohnmächtig zu werden. Aber in diesem Augenblicke traten sie aus dem Gange und übersahen eine große Landschaft, in welcher mehrere Dörfer lagen. Sie wurden von einer Helligkeit erleuchtet, die unserer Morgen- und Abenddämmerung glich, und war mit Bäumen, Stauden und Erdfrüchten aller Art bebaut. Nach einiger Ruhe bei einem rauschenden Wasser gingen sie auf einer schönen geebneten Straße wohl zwei Stunden lang fort. Endlich kamen sie zu Wohnungen, die von chinesischer Bauart, klein und niedlich, aber mit solchen schönen Farben bemalt waren, von denen wir gar keine Vorstellung haben. Sie gingen in eine der schönsten, wo viele Leute beiderlei Geschlechts, des Männchens Kinder versammelt waren. In einem überaus schön verzierten Saale fand der Student auf fünf Stühlen zwei sehr alte Männchen und drei ebenso alte Weibchen sitzen. Er mußte sich auch setzen und das Männchen stellte ihn den Uebrigen als einen stillen, sittsamen Menschen, der ihm willig gefolgt sei, vor. Man hieß den Studenten freundlich willkommen, und der Aelteste davon sprach zu ihm: »Fremdling, durch sonderbare Offenbarung ist mir Deine Gefahr auf dem Hause Plesse wissend geworden, und der Befehl gekommen, Dich in Sicherheit zu bringen. Ich schickte daher meines Sohnes Sohn ab, Dich hierher zu führen, und es freut mich, daß Du ihm ohne Furcht gefolgt bist. Es soll Dir kein Leid wiederfahren und Du sollst, wenn es oben wieder Tag wird, sonder Gefahr auf das Haus Plesse zurückgeleitet werden. Amen!« Alle neigten sich bei diesen Worten, als wollten sie sagen: »der spricht ein wahres Wort!« Der Student aber bedankte sich für diese Versicherung und sagte den kleinen Herren viel Liebes und Gutes über ihre Sorgfalt und freundliche Aufnahme. Jetzt trat aber ein holdes Mägdlein in den Saal. Sie war so klein, wie bei uns gewöhnlichen Menschen ein Kind von sechs Jahren zu sein pflegt, aber dabei völlig ausgewachsen und mannbar. Mit einer lieblichen Miene lud sie die Anwesenden zur Mahlzeit, welche im Nebengemach bereitet war, ein, Alle erhoben sich zugleich und baten den Studenten,[975] ihnen zu folgen. Der Hunger plagte diesen zwar ziemlich, aber er traute den kleinen Männchen nicht recht und schlug daher die Einladung unter dem Vorwande, daß er in der Nacht nicht essen könne, ab. Sein Führer aber gab ihm durch einen Wink zu verstehen, daß er mitgehen müsse und so folgte er ihm auch.

Auf der Tafel standen zwar nur drei Gerichte, sonst aber war sie festlich aufgeputzt; das Tafeltuch war außerordentlich fein, man sagte ihm, es sei aus Amiantstein gewebt, und werde, wenn es schmutzig sei, nicht durch Wasser, sondern durch Feuer wieder gereinigt. Die Schüsseln, Teller, Löffel, Messer, kurz alle Geräthe auf dem Tische waren von gediegenem, auf's Schönste polirtem Silber und bei jedem Gedecke stand ein prächtig gearbeiteter, goldener Becher mit Getränk gefüllt. Der Student hatte sich nun zwar mit dem Vorsatze, nichts zu essen, hingesetzt, aber der liebliche Duft der Gerichte überwältigte seine Besorgnisse. Er aß und ließ sich's trefflich schmecken. Bei der zweiten Schüssel ergriff das älteste Männchen seinen Becher mit den Worten: »Gelobt sei Gott, der uns das Wasser zur Erquickung und Labung bescheert hat!« Die Uebrigen antworteten darauf: »Er sei gelobt!« Ein Jeder trank, der Student aber nicht. Er wollte wenigstens versuchen, ob er es umgehen könne, denn das Getränk hatte ihm eine unbekannte, verdächtige Farbe. Allein von Allen dazu aufgefordert, mußte er sich doch überwinden und den Becher ergreifen. Lieblicher und labender aber hatte ihm lange nichts geschmeckt und voll Verwunderung rief er aus: »Ei, welch köstliches Getränk, davon müßt Ihr mir das Rezept geben!« Die kleine Schöne neben ihm lachte und sprach: »Das quillt ja aus der Erde, das machen wir nicht!« – »Da seid Ihr glückliche Menschen!« antwortete der Student, »wir müssen unsere Getränke erst durch Kunst und Mühe bereiten!« Der Alte aber sprach: »Du bist wie alle Deine Mitbrüder von dem Fehler angesteckt, daß Du die Wohlthaten Gottes nicht genug erkennst. Ihr habt Vieles, um was wir Euch beneiden könnten, die wärmende Sonne am Tage, Nachts den Mond- und Sternenhimmel, was wir Alles entbehren müssen. Gleichwohl sind wir aber zufrieden. Leider haben wir aber auch Feinde, denn es giebt bei uns eine Art Geschöpfe, mit denen wir stets im Kriege leben, sie sind halb Menschen, halb Schlangen und leben in Felshöhlen, in welche wir sie mit Mühe zurücktreiben. Wir haben vergeblich versucht, sie für uns zu gewinnen, allein umsonst, wir leben in beständiger Furcht vor ihren Angriffen!«

Nach diesen Worten ließ sich vor der Thür ein starker Ton hören, als blase Jemand in ein Horn. Die ganze Versammlung fiel auf ihre Kniee und betete leise. Dies war das Zeichen, daß der Abend anbreche und gleich darauf wurden auch Lichter auf großen silbernen Leuchtern hereingebracht. Alle begaben sich wieder in das andere Zimmer, wo das alte Männchen zu ihm also sprach: »Ich will jetzt, daß Du auf die Oberwelt zurückkehrst, denn bei uns bricht der Abend, bei Euch aber der Tag an, und das Unwetter ist vorüber. Wohlan, so gehe denn, vergiß nicht, was Du hier gesehen hast, und laß Dir die Erinnerung daran immer eine Aufforderung mehr sein, den Gott, den wir Beide verehren, zu preisen. Meine Kinder werden Dir einige Kleinigkeiten zustellen, die bei Euch Menschen Werth haben und die Du als Andenken an Deinen hiesigen Aufenthalt betrachten magst!«[976]

Der Student stand da wie aus den Wolken gefallen, er wollte gar nicht fort und sollte doch. Er hatte schon gehofft, sich hier einige Wochen aufhalten zu dürfen, um Alles auf dieser neuen Erde recht genau besehen zu können. Er hatte schon beschlossen zu bitten, man möge ihn in den unterirdischen Gärten herumführen, als man ihn gehen hieß. Allein er machte keinen Versuch um Aufschub seiner Abreise zu bitten, sondern folgte seinem ersten Führer verdrießlich. Aus dieser übeln Stimmung wurde er aber wieder auf eine überraschende Weise geweckt. Er wurde nämlich in eine Kammer geführt, wo Gold- und Silberkörner von der Größe unserer Erbsen in hohen Haufen aufgeschüttet waren, und große Tafeln standen, worauf Diamanten, Saphire, Hyacinthen und andere edle Steine in unglaublicher Menge und Größe und auf's Köstlichste geschliffen ihn anblitzten. Der Student war Kenner solcher Steine und da lachte ihm freilich das Herz im Leibe, als er die unschätzbare, unbezahlbare Menge erblickte, von denen er schon seine Taschen angefüllt sah. Das kleine Männchen schenkte ihm jedoch nur zwölf Stücke davon, dagegen verstattete es dem vor Begierde klappernden Studenten, von den Gold- und Silberkörnern soviel zu nehmen, als er nur fortbringen könne. Der Student ließ sich das nicht zweimal sagen, griff hastig nach den Goldkörnern und stopfte alle seine Taschen, selbst die steifen Stiefeln voll und packte noch in das Taschentuch und den Hutkopf, was nur heineingehen wollte. Außerdem erhielt er noch ein Kästchen von dem kleinen Männchen, was auch mit Goldkörnern angefüllt wurde. So wohlbeladen trat er den Rückweg auf die Oberwelt an. Sein Begleiter verließ ihn jedoch bald, gab ihm aber dafür zwei seiner Söhne mit, wovon der eine eine Leuchte, der andere aber das zwanzig Pfund schwere Kästchen trug.

Auf demselben Wege, auf welchem der Student hingeführt war, wurde er auch zurückbegleitet, und durch das Gerüste, welches noch auf dem Wasser im Brunnen schwamm, wurden sie alle drei im Hui in die Höhe gehoben. Der Student trat herab von dem Gerüste, erhielt das Kästchen und ein freundliches Lebewohl von seinen Begleitern, welche darauf wieder in den Brunnen hinabsanken.

»Träume ich, oder wache ich!« rief der junge Mann aus, als er sich wieder mitten unter den Ruinen des Schlosses Plesse sah. »Wo war ich, was sehe ich?« Bald aber überzeugte ihn die Menge des bei sich habenden Goldes und das Blitzen der edlen Steine, in denen sich die aufsteigende Sonne spiegelte, daß er nicht geträumt habe, daß alles reine Wirklichkeit sei. Seine Freude war grenzenlos. Man denke sich einen armen Göttinger Studenten, der bis dahin kaum hundert Thaler jährlich zu verzehren hatte, und auf einmal in den Besitz von 20 bis 30,000 Thaler kommt. Er sprang auf dem hohen Berge herum, klatschte in die Hände und wußte gar nicht, was er gleich anfangen sollte. Nachdem sich der erste Rausch gelegt hatte, ging er den Berg hinab und nach Göttingen zurück. Hier setzte er die Goldkörner in Geld um, ward aber dabei von den Göttinger Juden arg betrogen, auch die edeln Steine verkaufte er, that aber mit dem erhaltenen Gelde viel Gutes, weil ihm doch mancher Scrupel kam, ob jene Unterirdischen auch wirklich gute Geister gewesen seien, oder ob doch nicht etwas Teufelei mit dabei gewesen sei. Er ist späterhin noch manches Mal in die Ruinen des alten Schlosses Plesse gegangen, hat aber niemals jenes Männchen wiedergesehen, das Räthsel der Begebenheit selbst ist also auch ungelöst geblieben.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 974-977.
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