1218. Das Geisterschiff.

[987] (S. Sundermann S. 34.)


Als noch die Stadt Emden im schönsten Flore stand, die Ems unter der Stadtmauer hinfloß und Schiffe aller Länder und Völker den Hafen ausfüllten, begab es sich einmal, daß ein gewaltiger Sturm aus Nordwest losbrach, der das Wasser der Nordsee in ungeheuren Massen und Wellen der Stadt zuwälzte, so daß es ordentlich eine Noth wurde. In diesem Wetter lief ein großes städtisches Kauffahrteischiff, das sich lange auf fremden und fernen Meeren herumgetrieben hatte, bei der Einfahrt in die Ems signalisirt worden war und nun sehnlichst erwartet wurde, des Nachts mit vollen Segeln an die Stadt. Schon war es nahe vor der Hafenmündung unweit der langen Brücke, nahe dem schützenden Delft, schon sah man im Scheine der aufgehißten Laternen, die hin und her schlugen, die dunkeln Gestalten der Seeleute sich auf und ab bewegen, schon hörte man den Commandoruf des den Sturm mit Macht übertönenden Capitains, hörte das Rasseln des schweren Ankers, der nieder in die Tiefe ging, da mit einem Male brach eine so höllische Windsbraut einher, wirbelten die Wasserberge so schrecklich in die Luft hinein, heulte und pfiff der Wind so gellend und eigenthümlich, daß es ein Schauder für die am Hafen stehenden Zuschauer war. Das Schiff wurde plötzlich erfaßt, emporgehoben, niedergetaucht und wieder mit einem Ruck aufgehoben, herumgewirbelt und dann in die Tiefe hinabgestampft. Ein gräßlicher Nothschrei ertönte vom Deck, vierzig wettergebräunte Seeleute, fast alle Emder Söhne, sollten hier im Angesicht ihrer Vaterstadt, im Angesicht ihrer am Kai stehenden Eltern und Geschwister so jämmerlich zu Grunde gehen! »Wo ist die Barge?« rief man am Ufer, aber der Hafenschließer wies in den Delft auf das von ihm dort angeschlossen gehaltene Wachtboot und sagte kalt und gefühllos: »Die Barge bleibt hier, es wäre nutzlos, sie ausgehen zu lassen, auch hat Elfert Giesberts es nicht besser verdient, als es ihm jetzt da draußen geschenkt wird!« Denn der so genannte Capitain des Schiffes, welches da außen eben unterging, war der erklärte Feind des Hafenschließers und dieser kannte nicht das Wort der heiligen Schrift: »Liebet Euere Feinde!« sondern wußte nur von dem Worte: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Und obgleich der Schließer Nachricht davon hatte, daß sein eigener Sohn an Bord des Kauffahrers sei, so war doch der Haß gegen den Capitain in seinem Herzen so groß, daß er keine Hand zur Rettung der Mannschaft ansetzte. Und als man ihn endlich gezwungen hatte, den Schlüssel herzugeben, da war es längst zu spät. Mit Mann und Maus war das Schiff versunken in dem Wirbel der Wasserberge und höhnisch pfiffen die Winde über die Stadtmauer hin.

Aber noch immer, wenn ein Sturm aus Nordwest heranzieht, die Wasser der See an den Deich hinanrasen, die Luft ächzt und stöhnt und die Winde gellen und heulen, sieht man in rabenschwarzer Mitternacht ein Geisterschiff in bläulichen Lichtschimmer eingehüllt heranstürmen, hört man das Klappern[987] der Taue, das Rasseln der Ketten, das Rufen des Capitains und den mark- und beinerschütternden Angst- und Todesschrei der Sterbenden, und wer den Schrei hört, fährt schauernd zusammen und eilt von jener Unglücksstätte hinweg.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 987-988.
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