862. Das Schloß in der Kirche zu Herbstein.

[741] (S. Brower, Antiq. Fuldens. L. IV. p. 357.)


Auf bedeutender Höhe, aber gleichwohl immer noch von höhern Bergen umgeben, liegt in einer Art Bergkessel das früher zu Fulda gehörige Städtchen Herbstein; an der Wand der dortigen Kirche ist heute noch ein Hängeschloß mit Ketten aufgehängt zu sehen, worüber folgende Sage erzählt wird.

Bis zum Jahre 1568 widerstand dieses Städtchen allen Aufforderungen, den alten Glauben zu verlassen und dem Lutherthum Zugang in seine Mauern zu gewähren. In diesem Jahre lebte hier ein frommer Geistlicher, Ludwig Reitz, der aber in dem Rufe stand, viel Vermögen zu besitzen. Nun hielt sich aber in der Nähe der Stadt ein gefährlicher Räuber auf, Namens Johann Leiningen, der sich schon lange mit dem Plane getragen hatte, den armen Priester gefangen zu nehmen um ein gutes Lösegeld von ihm zu erpressen.[741] Einst begab sich derselbe hinaus auf eine ihm gehörige Wiese, um bei der Heuernte mitzuhelfen. Dies hatte der Räuber erfahren, er sprengte also dorthin, ritt den armen Mann nieder und ließ ihn durch seine Leute in den nahen Wald schleppen. Hier wurde ihm eine Kappe über den Kopf gezogen, man setzte ihn auf ein Roß und führte ihn immer in dem Walde hin und her um ihn in Bezug auf den Ort, wo er sich befand, irre zu machen und ihm den Glauben einzuflößen, als befinde er sich in großer Entfernung von Herbstein. Hierauf machten sie in dem mitten im Walde gelegenen Raubschlosse Leiningen Halt, legten ihm Fesseln an Hand und Fuß und singen an ihn mit Nadeln und spitzen Messern so lange in die Hände zu stechen und ihn auch sonst mit dem Tode zu bedrohen, bis er versprach, ein Lösegeld von tausend Gulden zu zahlen. Er mußte also an seine Verwandten einen Brief schreiben, worin er ihnen befahl, die Summe an einen bestimmten Ort zu bringen, und dieser ward von den Leuten des Räubers an das Stadtthor geheftet. Indeß lag der arme Mann weinend und jammernd auf seinem Strohlager, da sah er plötzlich neben sich einen kleinen Pflock liegen und als er zufällig mit demselben die Eisen, in welche seine Füße geschmiedet waren, berührte, da schmolz das Eisen davon wie der Schnee an der Sonne. Dies machte ihn so beherzt, daß er ungeachtet der Ketten, welche seine Hände fesselten, aus dem Gefängniß, in welches man ihn gebracht hatte, zu entfliehen beschloß; es gelang ihm auch, aus dem Fenster zu brechen und obgleich er beim Hinausspringen zufällig auf eine dort sitzende Gluckhenne trat und diese laut gackerte, glücklich zu entkommen. Er floh 15 Meilen weit hinein ins Isenburgische, wo ihn dann seine Verwandten, welche inzwischen mit dem Gelde gekommen waren, wiederfanden. Zum ewigen Gedächtniß seiner wunderbaren Rettung hing er dann Schloß und Kette in der Kirche zu Herbstein auf.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 741-742.
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