879. Der Würfelthurm zu Geismar.

[753] (S. Falkenheimer a.a.O. S. 363 etc.)


Fast in der Mitte des Theiles der Stadtmauer in Hofgeismar, welcher sich von dem Mühlenthore bis an den sogenannten Pulverthurm hinzieht, stand vor etwa 50 Jahren über einem Mauerbogen, welcher das Wasser dieses sumpfigen Stadtviertels abziehen läßt, ein Thurm, auf dessen viereckigem Unterbaue drei colossale Würfel an den Ecken lagen, und der daher der Würfelthurm hieß; jetzt ist der Thurm abgebrochen, allein jener Straßentheil führt immer noch von ihm den Namen. Es giebt aber über die Entstehung desselben folgende Sage.

Einst war die Stadt Geismar viel größer denn jetzt und sie hatte viele Fehden, namentlich mit den Braunschweigischen Herzögen, zu bestehen. Einmal haben die Bürger auch Krieg mit dem Herzog Heinrich von Braunschweig geführt (1403), der kam mit einem großen Heerhaufen, bedeckte die ganze Feldmark mit ihnen und schloß die Thore, die freilich geschlossen waren, sowie die Mauer vollständig ein, also daß Niemand weder hinein noch heraus konnte. Sie hatten auch die Kühe von der Weide geholt und die Schweine weggetrieben und alles Vieh, das mit den Hirten geht. Die ganze Saat hatten sie auch abgemäht und die Frucht unter die Pferde gestreut. Anfangs waren sie sehr lecker, sie schlachteten das Vieh und wollten nichts Anderes essen als Fleisch in Schmalz und Würste und Gebratenes mit Salat. Als aber Alles verzehrt war, da hatten die vielen Leute vor der Stadt nichts mehr zu essen. In der Stadt war es aber auch nicht besser, sie mußten darin Hunger leiden und wußten nicht, wovon sie leben sollten. Da war mancher, der drei Stück Kühe gehabt hatte und hatte nun kein einziges mehr. Die saure Milchsuppe (mit kleinen Klößen) mußten sie auch dünner kochen und Fleisch entbehrten, sie ganz.

Deshalb wurden sie beiderseits einig, sie wollten zwei Männer, einen aus dem Lager, den andern aus der Stadt mit einander um den Sieg würfeln lassen und erwarten, wer den besten Wurf thäte. Der Würfeler aus dem Lager warf siebenzehn. Da erschrak der, den sie aus der Stadt geschickt hatten, sehr, er war außer sich vor Furcht und dachte schon, es wäre alles verloren, aber werfen mußte er doch und er warf achtzehn. Da lachten die Bürger von Geismar diese Prahler aus, weil sie jetzt abziehen und die Stadt in Frieden lassen mußten. Dem Bürger aber, der den besten Wurf gethan,[753] hat man in der Stadt ein Denkmal gesetzt auf dem Thurme, bei dem er gewürfelt hatte. Man hat drei große Steine so ausgehauen, wie Würfel sind, und hat sie unten auf die Mauer des Thurmes gelegt und es sind achtzehn Augen darauf gewesen. Zu Anfang dieses Jahrhunderts hat der Thurm, der davon der Würfelthurm hieß, noch gestanden.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 753-754.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Sagenbuch des Preußischen Staats
Sagenbuch des Preußischen Staats: Erster Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Zweiter Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Erster Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Zweiter Band