882. Der Liebenbach.

[763] (S. Bechstein, Deutsches Sagenbuch S. 623.)


Nicht gar weit vom Meißnerberge liegt die Stadt Spangenberg, die hat ihren Namen von einem Berge, auf welchem eine Menge kleiner Steine gefunden werden, die alle von Natur ein Zeichen, wie eine Spange, auf sich haben. Ihr Trinkwasser erhält sie von einem Berge gegenüber. Einst wohnten, bevor die Stadt sich dieses trefflichen Wassers erfreute, zwei Liebende zu Spangenberg, deren gehoffter Verbindung die Eltern beiderseits streng entgegen[763] waren. Da sie aber gar nicht von einander ließen, so gab man ihnen auf, sie sollten ganz allein jene gute Quelle nach der Stadt leiten, dann solle ihre Hochzeit sein. Sie begannen auch ihre schwierige Arbeit, sie gruben den Bach, aber es ging doch sehr langsam, und wie sie sich auch plagten, so wurden sie doch alt dabei, doch liebten sie sich immer treulich fort, und endlich kamen sie doch mit ihrem Werke zu Stande, allein nicht weniger als vierzig Jahre waren darüber verflossen. Als sie aber den letzten Spatenstich gethan hatten, da wurden sie mit Kränzen geschmückt, das sollten ihre Hochzeitskränze sein, es waren aber ihre Todtenkronen, denn sie blickten einander sehnsüchtig an, weinten, sanken einander in die Arme, aber auch schnell todt zu Boden. Darum heißt jener Bach, den sie mit ihren treuen Händen gegraben haben, noch heute der Liebenbach. Wer von dem Wasser desselben trinkt, der hegt schon bei dem ersten Trunke den Wunsch, in Spangenberg zu bleiben oder dahin zurückzukehren.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 763-764.
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