959. Die geflügelten Ameisen zu Spangenberg.

[806] (S. Lyncker a.a.O. S. 131 etc., nach d. hess. Zeitrechnung u.d.J. 1693.)


Im Schlosse zu Spangenberg kann man bis auf den heutigen Tag am Laurentiustag (10. August) oder auch einen Tag früher oder später eine merkwürdige Erscheinung beobachten. Man sieht nämlich große Schaaren sogenannter geflügelter Ameisen (formica nigra) durch den Schornstein, welcher auf der innern Vorderpforte durch den Thurm geht, und wie man sagt, durch keinen andern, herab ins Schloß fallen; diese kriechen dann auf dem Schloßplatze herum, sterben aber endlich und geben einen übeln Geruch von sich. Man erzählt, daß gewöhnlich an demselben Tage, wo sie schwärmen, ein starkes Gewitter mit Sturm und Hagel etc. kommt. Ueber diese regelmäßige Wiederkehr dieser Ameisenschaar erzählt man dem Besucher des Schlosses folgende sonderbare Geschichte.

Es wohnte vor langen, langen Jahren auf Schloß Spangenberg ein mächtiger Graf, dem alle Dörfer im Umkreise gehörten und der nebenbei ein eifriger Jäger war. Dieser hatte eine sehr schöne junge Frau und bei dieser zu ihrer Bedienung einen Edelknaben, der leider gegen die Reize derselben nicht gleichgiltig blieb und seine Gefühle zuweilen offenbar an den Tag legte, mehr als es sich für die Stellung, welche er einnahm, paßte. Sein Herr hatte mehrmals Gelegenheit gehabt, dies wahrzunehmen und ihm auch in Folge davon die ernstesten Warnungen zugehen lassen, allein sei es, daß er doch noch hoffte, seinen Zweck zu erreichen, oder daß er zuviel von der Nachsicht seines Gebieters erwartete, er schlug alle Vorsicht in den Wind und wagte es auch fernerhin die Gräfin mit seinen frechen Anträgen zu verfolgen. Pflichtgetreu setzte sie ihren Mann davon in Kenntniß, dieser ließ ihn festnehmen und ins Burgverließ werfen. An einem der folgenden Tage ließ er alle seine Freunde und Nachbarn zu einer großen Jagd in seinen Wäldern am Bromsberge und dem gegenüberliegenden Junkerkopfe einladen, dieselben erschienen auch in großer Anzahl, man zog hinaus in den Wald, erlegte eine Masse Wild und versammelte sich Abends zur festlichen Tafel in der Halle des Schlosses. Als Alles beim Becher saß, da fragte der Burgherr wie zum Spaße seine Gäste, was sie wohl mit dem machen würden, der während sie hier schmausten, zu Hause ihre Gattinnen zu verführen trachtete. Die Angetrunkenen überboten sich im Ersinnen von Martern, welche sie einem solchen Frevler anthun wollten, einer aber meinte: »Ich würde einen solchen Buben nackt ausziehen, seinen Körper mit Honig beschmieren, ihn dann an der obersten Thurmspitze in einem Käfig heraushängen und so von den Insekten zu Tode stechen lassen!« Das billigten die Andern, ohne eine Idee zu haben, daß es sich wirklich hier um etwas Ernstes handele, dann suchte jeder sein Lager und am andern Morgen zogen sie wieder von Spangenberg ab, ohne die Folgen ihres grausamen Urtheils zu ahnen. Der Ritter ließ nun einen geschickten Schmied aus der Stadt kommen und von diesem einen festen Käfig von starkem Eisendraht fertigen, als derselbe gebracht wurde, holte man den Edelknecht aus seinem Kerker, entkleidete ihn, beschmierte seinen ganzen Körper mit Honig, steckte ihn dann in den Käfig und brachte diesen hinauf an die Thurmspitze, wo man ihn festband. Bald sah man von unten, daß sein ganzer Leib schwarz war, das waren die unzähligen[807] Insekten, die sich an ihn, von der Süßigkeit des Honigs angelockt, festgesetzt hatten. Ihre Stiche, unlöschbarer Durst und die senkrecht auf seinen Scheitel herabfallenden Strahlen der Augustsonne machten ihn wahnsinnig und tödteten ihn in wenig Tagen. Da diese schauervolle Bestrafung gerade am Tage des h. Laurentius vorfiel, so hat man das Erscheinen dieser schwarzen Ameisen145, welche seit jener Zeit gerade an diesem Tage fast regelmäßig erst in einer schwarzen Wolke über jener Thurmspitze hängen, dann auf einen nebenan aus dem Dache hervorragenden hohen Schornstein fallen und durch diesen sich in solchen Massen in die Gemächer und Säle des Schlosses verbreiten, daß sie oft zollhoch den Fußboden bedecken und nach ihrem bald erfolgenden Absterben in große Haufen zusammengekehrt und auf den Mist geworfen werden, hiermit in Verbindung gebracht. Der Drahtkäfig soll übrigens bis zu Ende des vorigen Jahrhunderts noch im Schlosse vorhanden gewesen, dann aber von einem Commandanten verkauft worden sein.

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Nach Olaus Magnus, Hist. gent. Septentrion. L. XXII. c. 20, bedeutet das Erscheinen fliegender Ameisen, daß der König vom Volke erschlagen oder aus dem Lande werde vertrieben werden.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 806-808.
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