960. Die eiserne Jungfrau.

[808] (S. Lyncker S. 128.)


An mehreren Orten in Hessen hat man noch Spuren von der Anwendung der eisernen Jungfrau in der Tortur, z.B. in Fulda und Grebenstein. In einem der untern Gemächer des Zwehrenthurmes in Cassel hat sich auch ein solches Instrument befunden, eine eiserne Frauengestalt von mehr als gewöhnlicher Größe. Wer von ihr den Tod empfangen sollte, mußte sie umarmen, sobald er ihr nahe trat, wankte der Boden unter seinen Füßen, die Jungfrau öffnete sich, ihre Arme streckten sich nach ihm aus, zogen ihn mit unwiderstehlicher Gewalt an sich und drückten ihn an ihre Brust, aus dieser aber traten eine Anzahl kleiner Messer heraus, die sich ihm in den Leib bohrten und ihn in kleine Stücke zerschnitten, worauf er durch eine Fallthüre hinab in die Fulda fiel.

In der Mitte des vorigen Jahrhunderts soll ein Herr von Riedesel, ein Vertrauter des Erbprinzen Friedrich, des nachmaligen Landgrafen Friedrich II., in den Armen dieser eisernen Jungfrau umgekommen sein. Der Vater des Prinzen, Landgraf Wilhelm VIII., hielt ihn nämlich für einen derjenigen, welche seinen Sohn zum Uebertritt zur katholischen Religion veranlaßt hatten. Plötzlich verschwand jener Edelmann und weil man ihn kurz zuvor in der Nähe jenes Thurmes gesehen hatte, später auch in der Fulda in der Nähe jenes Canals einen menschlichen Finger mit einem goldenen Ringe fand, so hat sich die Vermuthung verbreitet, er sei durch jene eiserne Jungfrau ums Leben gekommen.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 808.
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