794. Blutlinde.

[705] (S. Bechstein, Deutsches Sagenbuch S. 65.)


In der Nähe Wiesbadens steht bei der Burgruine Frauenstein eine riesige Linde, von der die Sage geht, daß einst an der Stelle, wo sie sich jetzt[705] befindet, eine schauerliche Begebenheit geschehen sei. Ein Fräulein aus dem Geschlechte der Frauensteiner liebte einen ihr nicht ebenbürtigen Jüngling und sah ihn öfters, wenn sie Abends außerhalb der Burgveste lustwandelte, an einem traulich schattigen Plätzchen nahe der Burgmauer, wohin ein sonst stets verschlossenes Pförtchen führte, zu welchem sie allein den Schlüssel bei sich trug. Endlich nahm ihr harter, stolzer Vater diese Zusammenkünfte wahr, zürnte heftig, überraschte die Liebenden und erschlug den jungen Mann mit eigener Hand. Da brach die Tochter jammernd einen Lindenschoß ab, steckte ihn durch das dahinrinnende Blut ihres Geliebten in den Boden, sprach zu ihrem Vater nie wieder ein Wort und begab sich in das nächste Kloster. Täglich weinte sie hier um ihren erschlagenen Geliebten, das Lindenschoß aber schlug Wurzeln und trieb und trieb und ward ein Baum, und so lange die trauernde Jungfrau lebte und weinte, so lange floß Blut aus des Lindenbaums Gezweig, wenn Jemand einen Zweig oder Ast abriß. Dies that aber bald Niemand mehr, denn die Menschen scheuten sich, und so erwuchs die Blutlinde zu mächtiger Höhe und Dicke, und jetzt können den Baum kaum vier Menschen umklaftern.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 705-706.
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