803. Taube zeigt den Tod an.

[713] (S. Bechstein, Deutsches Sagenbuch S. 70.)


Zu Armsheim auf dem Kirchhof steht ein Grabstein, auf dem ist ein Pflug, auf dem eine Taube sitzt, eingehauen. Vor vielen Jahren hat dort ein junges Ehepaar gelebt, und die Frau hatte eine zahme Taube, die war ihr Liebling und nahm ihr aus dem Munde, was sie ihr anbot. Die Frau aber war guter Hoffnung, und eines Frühlings-Morgens befiel sie ein Bangen, als eben ihr Mann hinaus auf den Acker gehen wollte zur Saat, denn es war Säezeit und der Morgen windstill und heiter. Aber die Frau bat gar herzlich ihren Mann, er solle bei ihr bleiben. Doch er entschuldigte sich mit der Dringlichkeit der Arbeit und verhieß ihr, sich zu eilen und bald wieder nach Hause zu kommen. Er hatte aber den Samen noch nicht zur Hälfte ausgestreut, da kam die Lieblingstaube seiner Frau geflogen und flatterte umher und setzte sich auf den Pflug, der auf dem Acker stand, und sah den Säemann an und schlug mit den Flügeln. Und da er nicht abließ von der Arbeit, so flog ihm die Taube gegen die Brust und pickte ihn in das Kinn, und da gedachte er an seine Frau und eilte heim. Da fand er seine junge schöne Frau todt im Bette, denn sie hatte ohne Hilfe geboren, und zwei lebende gesunde Kinder lagen in ihren Armen. Es war Niemand dagewesen, den sie hätte nach Hilfe senden können, und er hatte ihre zarte Bitte nicht verstanden, und war die treue Taube nicht, so wären auch die beiden Kinder des Todes verblichen. Der Mann aber trauerte, so lange er lebte, freite nie wieder und zog die Kinder mit Liebe auf, auf das Grab der Gattin aber ließ er die Taube meißeln, und betete oft um Mitternacht auf dem Grabhügel seiner Entschlafenen.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 713.
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